El gran teatro del mundo: ein Film im Theater. Krzysztof Warlikowski inszeniert Händel: Il Trionfo del Tempo e del Disinganno beim Festival d’Aix-en-Provence

Die bekannte Affinität zwischen Oratorium und Oper – und dies ist auch bei Händels  Il Trionfo vom Jahre 1707 der Fall – verführt unsere Theatermacher gern dazu, die dramatische Anlage des Oratoriums für szenische Umsetzungen zu nutzen. Von der barocken Parabel, die in einer Diskussion zwischen der Zeit (Il Tempo) und der Desillusionierung (Il Disinganno), der Bellezza  und Il Piacere, die für Schönheit und Lebensfreude stehen, erzählt, von einer Parabel, die gegen den Glanz der Schönheit und die jugendliche Lebensfreude die Vanitas alles Irdischen propagiert und Rettung nur in der Wahrheit des christlichen Gottes verspricht, von diesem gegenreformatorischen Eifer wollen die heutigen Inszenierungen nichts wissen.

So hatte vor nunmehr zehn  Jahren  Jürgen Flimm in Zürich und kürzlich noch einmal bei einer Wiederaufnahme in Berlin die barocke Diskussion zum Small Talk  in  einer mondänen Hotelbar transformiert  und das Oratorium als fundamentalistischen Terror und Zerstörung des Lebens durch die Tyrannis der Ideologie gedeutet. In Stuttgart, in einer Produktion aus dem Jahre 2011, geht Calixto Bieito noch einen Schritt weiter. Aus den scheinbar so konventionellen Streitmonologen  im geradezu luftleeren Raum wird bei ihm eine wilde Love-Story zwischen einer vergnügungssüchtigen jungen Schönheit und einem nachdenklichen jungen Mann namens Tempo, und das alte Thema der Vanitas wird dabei nicht nur ironisiert, sondern bis hin zur Groteske gesteigert: Bellezza mutiert zur Maria Magdalena, Il Piacere, die vergnügungssüchtige Schwester, zum Revue Girl, Il Disinganno zur heruntergekommenen Rockerin, und die Vanitas feiern die Insassen eines Altersheims mit einer wilden Karusselfahrt auf dem Rummelplatz.

Und jetzt in Aix-en-Provence? Bei Warlikowski da gibt es noch das große Welttheater und auch die Vanitas und  die Bellezza mit ihrer Sucht nach den Events und auch die scheinbar so besorgten Mahnungen, wie sie Il Tempo und il Disinganno vorbringen. Doch von der barocken Ästhetik ist nichts mehr übrig geblieben. Aus der Barockästhetik ist eine Filmästhetik geworden. Aus dem großen Welttheater ist das große Filmtheater geworden – und dies im ganz konkreten Sinne. Schauplatz des Geschehens sind zwei Kinosäle, die  durch einen hohen Glaskasten getrennt sind. Der Glaskasten ist der Schaukasten des Kinos, der Ort der früh dahin gegangenen Schönen, die, so suggeriert es deren Outfit, Drogenabhängige waren. Wenn sie als Untote aus ihrem Glaskasten heraustreten, dann nehmen sie im Kino Platz, um noch einmal am Beispiel einer jungen Frau, der Bellezza, ihre eigene Geschichte zu sehen. Diese Bellezza ist eine Event- und Drogensüchtige aus den besseren Kreisen, die von ihrem Eventmanager(Il Piacere) zu immer neuen Gelüsten verführt und angetrieben wird. Il Tempo ist der alte routinierte Filmemacher und Il Disinganno sein Scriptgirl, die für Bellezza die Geschichte vom Zusammenbruch einer vergnügungssüchtigen jungen Frau, die die Zukunft ausblenden will, in Szene setzen, eine Geschichte, bei der diese selber die Hauptrolle spielt. Oder sind Il Tempo und Il Disinganno vielleicht ein großbürgerliche Ehepaar, das die Tochter vergeblich vor dem Absturz bewahren will? Auch diese Deutung legt die Regie nahe, wenn sie das Finale als Einladung zum Dinner in Szene setzt.

Das Drehbuch hat indes kein happy end vorgesehen, so wenig wie das barocke Oratorium ein lieto fine kennt. Eine monacazione, und sei sie auch eine monacazione forzata, wie sie im Libretto des Kardinals Benedetto Pamphilj vorgesehen ist,  gibt es nicht. Auch ein Maria Magdalena Finale ist der jungen Frau nicht vergönnt. Zur berühmten Schlussarie „Tu del ciel ministro eletto“, die von Händel und Pamphilj als Gebet gedacht war und die im Pianissimo geradezu verlöscht, schneidet sich Bellezza die Pulsadern auf, und ihr Sterben, ihr ‚Verlöschen‘, darf das Publikum in Großaufnahme auf der Leinwand verfolgen – und dabei frösteln. Oder kam das Frösteln vom Mistral her, der durch den Patio des erzbischöflichen Palasts wehte und das Publikum zwang, sich in Mäntel und Decken zu hüllen?

Und Händel und die Barockmusik?  In Aix-en-Provence  wurde höchst brillant musiziert und gesungen. Es musizierte Le Concert d’Astrée unter der Leitung von Emmanuelle Haim. Es sangen und spielten: Sabine Devieilhe (Bellezza), Franco Fagioli (Piacere), Sara Mingardo (Disinganno), Michael Spyres (Tempo). Großes Musiktheater im Théâtre de l’Archevêché in Aix-en-Provence, das den Flop vom Abend zuvor, die misslungene Così fan tutte, vergessen ließ.

Wir sahen die Dernière am 14. Juli 2016. Die Premiere war am 1. Juli 2016.

 

Die Wonnen des katholischen Fundamentalismus oder Zwangskonversion in der Hotelbar. lI Trionfo del Tempo e del Disinganno an der Staatsoper im Schillertheater

In Berlin präsentiert Jürgen Flimm seine vor  Jahren erfolgreiche Zürcher Inszenierung von Händels frühem Oratorium Il Trionfo del Tempo e del Disinganno noch einmal  –  eine Inszenierung, die auch jetzt bei der Wiederaufnahme  noch immer einen zwiespältigen Eindruck hinterläßt. Doch wie schon in Zürich hat Flimm auch in Berlin das Glück, dass Marc Minkowski am Pult steht. Und wie schon in Zürich macht auch in Berlin  der Maestro aus Händels Trionfo einen ‚Triumpf‘ für sich und seine Musiker.

Was ich mir damals in Zürich notierte, im Jahre 2006 und  dann ein knappes Jahr später im Januar 2007, das gilt auch für die Aufführung in Berlin, und so ztiere ich mich der Einfachheit selber.

Die bekannte Affinität zwischen Oratorium und Oper verführt seit langem dazu, die dramatische Anlage des Oratoriums für szenische Bearbeitungen zu nutzen. Das funktioniert leicht bei Handlungsoratorien wie etwa Saul. Aber bei allegorischen Oratorien? Wie soll es dann gehen? … → weiterlesen

Vanitas, Gehirnwäsche und Gelächter auf dem Rummelplatz oder wie aus einem Oratorium eine Beziehungskiste wird. Calixto Bieito inszeniert Il Trionfo del Tempo e del Disinganno an der Staatsoper Stuttgart

Vanitas, Gehirnwäsche und Gelächter auf dem Rummelplatz oder wie aus einem Oratorium eine Beziehungskiste wird. Calixto Bieito inszeniert Il Trionfo del Tempo e del Disinganno an der Staatsoper Stuttgart

 Sagen wir es gleich und ohne alle Umschweife: in diesem frühen Oratorium (Händel komponierte es im Jahre 1707 in Rom auf einen Text des Kardinals Benedetto Pamphilj) wird in seiner Stuttgarter Version brillant und hinreißend musiziert und gesungen.  Hier stehen mit Camilla de Falleiro, Ezgi Kutlu, Marina Prudenskaja und Charles Workman Sängerschauspieler auf der Bühne, wie man sie sich nicht besser wünschen kann. Hier spielt das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Sébastien Rouland  einen faszinierenden Händel. Und jetzt muss man sich entschließen, alles zu vergessen, was man über Oratorien, Allegorisierung, barocke Vanitas Ideologie, barocke Grundthemen wie Trug und Desillusionierung („inganno“ und „disinganno“), barocke Standardmotive wie Spiegel, Urne, Asche usw. gelesen hat. Ja, wenn die Bildungsbürgerin und Literaturwissenschaftlerin, alles dies vergießt, dann erlebt sie einen grandiosen Opernabend: die Transponierung einer scheinbar luftleeren Allegorie in lebendiges, packendes Theater, in action und suspense. Theatermann Bieito macht aus der so konventionellen Disputation zwischen den vier Allegorien Bellezza, Piacere, Tempo und Disinganno (Schönheit, Vergnügungssucht, Zeit und Desillusionierung) über die Vergänglichkeit alles Irdischen und die Hinwendung zum Göttlichen als Ort der Erlösung eine wilde Love Story zwischen einer vergnügungssüchtigen jungen Schönheit namens Bellezza und einem nachdenklichen jungen Mann namens Il Tempo. Dieser Vanitas Philosoph zielt darauf, die  angebetete Schönheit mit Worten und Taten gleichsam zu domestizieren und zu intellektualisieren, und er wird nicht müde, die Vergänglichkeit und Nichtigkeit alles Irdischen zu betonen und führt als warnendes Beispiel eine abgewrackte Rockerin und Drogenabhängige  (bei Händel  die Allegorie des disinganno, der Desillusionierung) vor. Nicht genug damit. Als Schocktherapie präsentiert  er der Bellezza im Finale die von Krankheit und Verfall gezeichneten stummen Insassen eines Altenheims. Vor der Macht der Worte und der Exempla kapituliert die Bellezza. Da hat auch die Freundin, die Vertreterin der Vergnügungssucht (bei Händel Il Piacere), keine Chance, mag sie auch im Finale zum Gaudi des Publikums als Koloraturen  zwitscherndes Follies Bergères Girl auftreten. So werden denn der so altkluge späte Jüngling und das so systematisch einer Gehirnwäsche unterzogene Mägdelein ein Paar, das ihn und sich gleich mit der Asche des Todes bestreut. Also doch barocke Vanitas? Nicht doch. Wer Bieito Inszenierungen kennt wie zum Beispiel seinen Stuttgarter Parsifal oder seine dortige Jenufa, der weiß, dass seine Inszenierungen nicht im Pathos enden und dass spätestens im Finale alles Pathos bei ihm aufgebrochen wird. Und so geschieht es auch in seiner Händel Version. Während die Bellezza so ‚überirdisch schön‘ von  der „ewigen Sonne“: „Tu del ciel ministro eletto“ singt, mutiert sie eben nicht, wie das in gängigen Inszenierungen üblich ist, zur Nonne, sondern macht als eine neue Maria Magdalena einen halben Striptease. Und kaum ist ihr Adagio verklungen („pianissimo verlöschend“ – laut Programmheft), da springen die Altenheiminsassen lachend und vor Freude quiekend auf das Rummelplatz Karussell – das Karussell dominiert das Einheitsbühnenbild. Mit einer Groteske, mit unbändigem Lachen nimmt Regisseur Bieito all die großen Worte und letztlich auch all die sublime Musik wieder zurück. Alles ist doch nur Theater, alles ist nur ein Spiel, alles ist nur Trug und Schein. Und das gilt auch für das so asketische Christentum, das der Kardinal Pamphilj in seinem Textbuch verkündet und das der Musiker Händel in eine ‚Oper‘ auf die Schönheit der Musik verwandelt. Allgemeine Begeisterung im Publikum. Der einst so erschreckende Bieito schreckt nicht mehr. Er zeigt verborgene Sinnschichten der von ihm in Szene gesetzten Werke auf – und er amüsiert. Wir sahen die Aufführung am 24. Juli 2011, die elfte Vorstellung.  Die Premiere war Am 28. Mai 2011.