In Berlin präsentiert Jürgen Flimm seine vor Jahren erfolgreiche Zürcher Inszenierung von Händels frühem Oratorium Il Trionfo del Tempo e del Disinganno noch einmal – eine Inszenierung, die auch jetzt bei der Wiederaufnahme noch immer einen zwiespältigen Eindruck hinterläßt. Doch wie schon in Zürich hat Flimm auch in Berlin das Glück, dass Marc Minkowski am Pult steht. Und wie schon in Zürich macht auch in Berlin der Maestro aus Händels Trionfo einen ‚Triumpf‘ für sich und seine Musiker.
Was ich mir damals in Zürich notierte, im Jahre 2006 und dann ein knappes Jahr später im Januar 2007, das gilt auch für die Aufführung in Berlin, und so ztiere ich mich der Einfachheit selber.
Die bekannte Affinität zwischen Oratorium und Oper verführt seit langem dazu, die dramatische Anlage des Oratoriums für szenische Bearbeitungen zu nutzen. Das funktioniert leicht bei Handlungsoratorien wie etwa Saul. Aber bei allegorischen Oratorien? Wie soll es dann gehen? Soll man es als mittelalterliches Mysterienspiel versuchen? Oder vielleicht gar als spanisches auto sacramental? Zu leicht gerät in Vergessenheit, dass das Theater mimetischen Charakter hat, eben nach dem bekannten Diktum „Nachahmung handelnder Menschen“ ist. Im Trionfo – und das ist das Dilemma für die Regie – stehen keine Menschen auf der Bühne, sondern Allegorien, und die „Handlung“ besteht im Austausch von Argumenten, die alle um den Topos der Vanitas und um die Konsequenzen kreisen, die sich aus der barocken Vorstellung von der Nichtigkeit aller irdischen Pracht ergeben. Flimm hat sich in seiner Inszenierung für eine Aktualisierung entschieden, holt die Diskussion aus ihrer Abstraktheit heraus und sucht die vier Allegorien Il Tempo, Il Disinganno, La Bellezza und Il Piacere in Gäste eines mondänen Nachtklubs oder einer Hotelbar zu verwandeln und auf diese Weise zu konkretisieren. Und dabei wird der Austausch der Argumente, bei denen es eigentlich um die conditio humana geht, zum Small Talk Geplänkel, und die Wandlung der Bellezza gerät unter dem vereinten Druck des Paars Tempo und Disinganno zu einer Art Gehirnwäsche, der die Bellezza unterzogen wird und die zu ihrer Zwangskonversion und Transformation in eine Novizin führt. Ein eher abwegiges und dem Geist des Oratoriums widersprechendes Szenarium. Hinzu kommt noch die nur von der Musik immer wieder ablenkende ständige Auffüllung der Hotelbar mit Gästen unterschiedlicher Art – vom Playboy bis zum Penner, von der Heilsarmee bis zu betrunkenen Matrosen. Es soll wohl ein besonderer Gag sein, dass, wenn Il Tempo vom Hafen des Lebens singt, dass dann Matrosen hereinstürzen, die ja frei nach Hans Albers in jedem Hafen eine Braut haben und sich eine solche unter den Gästen schnappen. Banalisierung des hohen barocken Pathos? Nein, nur alberne Ablenkung von der Musik und Unkenntnis des philosophisch-theologischen Gehalts des Hafenbildes. Wenn unter der Leitung von Minkowski nicht so hervorragend und so bewegt musiziert und gesungen würde, dann hieße das Stück nicht Il Trionfo del Tempo, sondern der Triumph der Statisten, die eben in Scharen und hübschen Kostümen die weite Bühne bevölkerten. Sieht man einmal von dem gänzlich abwegigen Regiekonzept mit seiner nur allzu billigen Aktualisierung ab und konzentriert sich allein auf die Musik, dann erlebt man einen melancholischen Händel-Abend auf höchstem Niveau, auf dem Minkowski vor allem die leisen, die verhaltenen Passagen so beeindruckend gestaltet, dass das Publikum einen wirklichen Stupore-Effekt – ganz im manieristischen Sinne – erlebt und gleichsam atemlos zuhört. Mein Vorschlag: Bringt es das nächste Mal konzertant!
Nachtrag am 20. 01. 07
Wie immer (welch eine Banalität) gewinnt oder verliert eine Inszenierung beim zweiten Sehen. Flimms Versuch, barocke Allegorien und barocke Meditationen in Szene zu setzen, beeindruckt dieses Mal. Nicht nur dass die Grundkonzeption noch stärker hervortritt: der fundamentalistische geistige Terror, mit dem die Figuren des Tempo und des Disinganno die Figur der Bellezza zerstören, eine nicht nur barocke Parabel von der Zerstörung eines Lebens durch die Macht der Ideologie. Auch der Statistenaufmarsch stört jetzt weniger. Vielleicht wurde bei der Wiederaufnahme die Statisten Show, die ich beim ersten Mal als einen Missgriff ansah, auch etwas zurückgenommen. Vielleicht nimmt man auch deren Funktion jetzt besser wahr: die Statisten sollen die Meditationen in Handlung umsetzen, sollen sie illustrieren, sollen immer wieder als lebende Bilder fungieren. Vielleicht sollen sie auch hin und wieder die „Reden“ der Allegorien parodieren. Die Auftritte der Heilsarme oder der Matrosen gehen vielleicht in diese Richtung. Schön anzusehen sind die Statistenscharen allemal. Flimm wollte ein Oratorium in Szene setzten. Doch in den Schlussszenen geschieht etwas Merkwürdiges. Da scheint die Inszenierung vor der Macht der Musik und des Gesangs gleichsam zu kapitulieren, und aus der Oper wird wieder ein Oratorium: alle Aktionen werden auf ein Minimum beschränkt, wie bei einer konzertanten Aufführung sitzen die Sänger auf Stühlen an der Rampe, alles wirkt mit einem Male nur noch statuarisch, und in der Schlussarie, dem Gebet der Bellezza, steht diese allein auf der Bühne.
Das Orchester unter Minkowski spielt wieder einen so vollendeten, einen vor allem in den Pianissimo Passagen so faszinierenden Händel, dass Inszenierung und Ausstattung letztlich – ganz im Sinne des barocken Oratoriums – nur schöner und damit nichtiger Schein sind.
Ein großer Oratorium(Opern)-Abend in Zürich. Ich glaube, ich gehe noch einmal hin.