Die bekannte Affinität zwischen Oratorium und Oper – und dies ist auch bei Händels Il Trionfo vom Jahre 1707 der Fall – verführt unsere Theatermacher gern dazu, die dramatische Anlage des Oratoriums für szenische Umsetzungen zu nutzen. Von der barocken Parabel, die in einer Diskussion zwischen der Zeit (Il Tempo) und der Desillusionierung (Il Disinganno), der Bellezza und Il Piacere, die für Schönheit und Lebensfreude stehen, erzählt, von einer Parabel, die gegen den Glanz der Schönheit und die jugendliche Lebensfreude die Vanitas alles Irdischen propagiert und Rettung nur in der Wahrheit des christlichen Gottes verspricht, von diesem gegenreformatorischen Eifer wollen die heutigen Inszenierungen nichts wissen.
So hatte vor nunmehr zehn Jahren Jürgen Flimm in Zürich und kürzlich noch einmal bei einer Wiederaufnahme in Berlin die barocke Diskussion zum Small Talk in einer mondänen Hotelbar transformiert und das Oratorium als fundamentalistischen Terror und Zerstörung des Lebens durch die Tyrannis der Ideologie gedeutet. In Stuttgart, in einer Produktion aus dem Jahre 2011, geht Calixto Bieito noch einen Schritt weiter. Aus den scheinbar so konventionellen Streitmonologen im geradezu luftleeren Raum wird bei ihm eine wilde Love-Story zwischen einer vergnügungssüchtigen jungen Schönheit und einem nachdenklichen jungen Mann namens Tempo, und das alte Thema der Vanitas wird dabei nicht nur ironisiert, sondern bis hin zur Groteske gesteigert: Bellezza mutiert zur Maria Magdalena, Il Piacere, die vergnügungssüchtige Schwester, zum Revue Girl, Il Disinganno zur heruntergekommenen Rockerin, und die Vanitas feiern die Insassen eines Altersheims mit einer wilden Karusselfahrt auf dem Rummelplatz.
Und jetzt in Aix-en-Provence? Bei Warlikowski da gibt es noch das große Welttheater und auch die Vanitas und die Bellezza mit ihrer Sucht nach den Events und auch die scheinbar so besorgten Mahnungen, wie sie Il Tempo und il Disinganno vorbringen. Doch von der barocken Ästhetik ist nichts mehr übrig geblieben. Aus der Barockästhetik ist eine Filmästhetik geworden. Aus dem großen Welttheater ist das große Filmtheater geworden – und dies im ganz konkreten Sinne. Schauplatz des Geschehens sind zwei Kinosäle, die durch einen hohen Glaskasten getrennt sind. Der Glaskasten ist der Schaukasten des Kinos, der Ort der früh dahin gegangenen Schönen, die, so suggeriert es deren Outfit, Drogenabhängige waren. Wenn sie als Untote aus ihrem Glaskasten heraustreten, dann nehmen sie im Kino Platz, um noch einmal am Beispiel einer jungen Frau, der Bellezza, ihre eigene Geschichte zu sehen. Diese Bellezza ist eine Event- und Drogensüchtige aus den besseren Kreisen, die von ihrem Eventmanager(Il Piacere) zu immer neuen Gelüsten verführt und angetrieben wird. Il Tempo ist der alte routinierte Filmemacher und Il Disinganno sein Scriptgirl, die für Bellezza die Geschichte vom Zusammenbruch einer vergnügungssüchtigen jungen Frau, die die Zukunft ausblenden will, in Szene setzen, eine Geschichte, bei der diese selber die Hauptrolle spielt. Oder sind Il Tempo und Il Disinganno vielleicht ein großbürgerliche Ehepaar, das die Tochter vergeblich vor dem Absturz bewahren will? Auch diese Deutung legt die Regie nahe, wenn sie das Finale als Einladung zum Dinner in Szene setzt.
Das Drehbuch hat indes kein happy end vorgesehen, so wenig wie das barocke Oratorium ein lieto fine kennt. Eine monacazione, und sei sie auch eine monacazione forzata, wie sie im Libretto des Kardinals Benedetto Pamphilj vorgesehen ist, gibt es nicht. Auch ein Maria Magdalena Finale ist der jungen Frau nicht vergönnt. Zur berühmten Schlussarie „Tu del ciel ministro eletto“, die von Händel und Pamphilj als Gebet gedacht war und die im Pianissimo geradezu verlöscht, schneidet sich Bellezza die Pulsadern auf, und ihr Sterben, ihr ‚Verlöschen‘, darf das Publikum in Großaufnahme auf der Leinwand verfolgen – und dabei frösteln. Oder kam das Frösteln vom Mistral her, der durch den Patio des erzbischöflichen Palasts wehte und das Publikum zwang, sich in Mäntel und Decken zu hüllen?
Und Händel und die Barockmusik? In Aix-en-Provence wurde höchst brillant musiziert und gesungen. Es musizierte Le Concert d’Astrée unter der Leitung von Emmanuelle Haim. Es sangen und spielten: Sabine Devieilhe (Bellezza), Franco Fagioli (Piacere), Sara Mingardo (Disinganno), Michael Spyres (Tempo). Großes Musiktheater im Théâtre de l’Archevêché in Aix-en-Provence, das den Flop vom Abend zuvor, die misslungene Così fan tutte, vergessen ließ.
Wir sahen die Dernière am 14. Juli 2016. Die Premiere war am 1. Juli 2016.