Vanitas, Gehirnwäsche und Gelächter auf dem Rummelplatz oder wie aus einem Oratorium eine Beziehungskiste wird. Calixto Bieito inszeniert Il Trionfo del Tempo e del Disinganno an der Staatsoper Stuttgart

Vanitas, Gehirnwäsche und Gelächter auf dem Rummelplatz oder wie aus einem Oratorium eine Beziehungskiste wird. Calixto Bieito inszeniert Il Trionfo del Tempo e del Disinganno an der Staatsoper Stuttgart

 Sagen wir es gleich und ohne alle Umschweife: in diesem frühen Oratorium (Händel komponierte es im Jahre 1707 in Rom auf einen Text des Kardinals Benedetto Pamphilj) wird in seiner Stuttgarter Version brillant und hinreißend musiziert und gesungen.  Hier stehen mit Camilla de Falleiro, Ezgi Kutlu, Marina Prudenskaja und Charles Workman Sängerschauspieler auf der Bühne, wie man sie sich nicht besser wünschen kann. Hier spielt das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Sébastien Rouland  einen faszinierenden Händel. Und jetzt muss man sich entschließen, alles zu vergessen, was man über Oratorien, Allegorisierung, barocke Vanitas Ideologie, barocke Grundthemen wie Trug und Desillusionierung („inganno“ und „disinganno“), barocke Standardmotive wie Spiegel, Urne, Asche usw. gelesen hat. Ja, wenn die Bildungsbürgerin und Literaturwissenschaftlerin, alles dies vergießt, dann erlebt sie einen grandiosen Opernabend: die Transponierung einer scheinbar luftleeren Allegorie in lebendiges, packendes Theater, in action und suspense. Theatermann Bieito macht aus der so konventionellen Disputation zwischen den vier Allegorien Bellezza, Piacere, Tempo und Disinganno (Schönheit, Vergnügungssucht, Zeit und Desillusionierung) über die Vergänglichkeit alles Irdischen und die Hinwendung zum Göttlichen als Ort der Erlösung eine wilde Love Story zwischen einer vergnügungssüchtigen jungen Schönheit namens Bellezza und einem nachdenklichen jungen Mann namens Il Tempo. Dieser Vanitas Philosoph zielt darauf, die  angebetete Schönheit mit Worten und Taten gleichsam zu domestizieren und zu intellektualisieren, und er wird nicht müde, die Vergänglichkeit und Nichtigkeit alles Irdischen zu betonen und führt als warnendes Beispiel eine abgewrackte Rockerin und Drogenabhängige  (bei Händel  die Allegorie des disinganno, der Desillusionierung) vor. Nicht genug damit. Als Schocktherapie präsentiert  er der Bellezza im Finale die von Krankheit und Verfall gezeichneten stummen Insassen eines Altenheims. Vor der Macht der Worte und der Exempla kapituliert die Bellezza. Da hat auch die Freundin, die Vertreterin der Vergnügungssucht (bei Händel Il Piacere), keine Chance, mag sie auch im Finale zum Gaudi des Publikums als Koloraturen  zwitscherndes Follies Bergères Girl auftreten. So werden denn der so altkluge späte Jüngling und das so systematisch einer Gehirnwäsche unterzogene Mägdelein ein Paar, das ihn und sich gleich mit der Asche des Todes bestreut. Also doch barocke Vanitas? Nicht doch. Wer Bieito Inszenierungen kennt wie zum Beispiel seinen Stuttgarter Parsifal oder seine dortige Jenufa, der weiß, dass seine Inszenierungen nicht im Pathos enden und dass spätestens im Finale alles Pathos bei ihm aufgebrochen wird. Und so geschieht es auch in seiner Händel Version. Während die Bellezza so ‚überirdisch schön‘ von  der „ewigen Sonne“: „Tu del ciel ministro eletto“ singt, mutiert sie eben nicht, wie das in gängigen Inszenierungen üblich ist, zur Nonne, sondern macht als eine neue Maria Magdalena einen halben Striptease. Und kaum ist ihr Adagio verklungen („pianissimo verlöschend“ – laut Programmheft), da springen die Altenheiminsassen lachend und vor Freude quiekend auf das Rummelplatz Karussell – das Karussell dominiert das Einheitsbühnenbild. Mit einer Groteske, mit unbändigem Lachen nimmt Regisseur Bieito all die großen Worte und letztlich auch all die sublime Musik wieder zurück. Alles ist doch nur Theater, alles ist nur ein Spiel, alles ist nur Trug und Schein. Und das gilt auch für das so asketische Christentum, das der Kardinal Pamphilj in seinem Textbuch verkündet und das der Musiker Händel in eine ‚Oper‘ auf die Schönheit der Musik verwandelt. Allgemeine Begeisterung im Publikum. Der einst so erschreckende Bieito schreckt nicht mehr. Er zeigt verborgene Sinnschichten der von ihm in Szene gesetzten Werke auf – und er amüsiert. Wir sahen die Aufführung am 24. Juli 2011, die elfte Vorstellung.  Die Premiere war Am 28. Mai 2011.