Erotische Träumereien einer reifen Dame und eines Dandy – und russische Geschichte als Beigabe. Stefan Herheim inszeniert Eugen Onegin in Amsterdam

Erotische Träumereien einer reifen Dame und eines Dandy aus der Welt von Gestern – und russische Geschichte von den Zaren bis hin zu Putin als Beigabe. Stefan Herheim inszeniert Eugen Onegin am Muziektheater Amsterdam

‚Lyrische Szenen‘, nicht Oper, hatte Tschaikowski  einst seinen Eugen Onegin genannt. In München hat man vor einigen Jahren aus den angeblich lyrischen Szenen eine grandiose Schwulenoper gemacht, in der zwei Männer, Onegin und sein Freund Lenski,  nach ihrer sexuellen Bestimmtheit suchen und die Frauen nur noch Nebenpersonen sind. In Leipzig (und anderswo) war Konwitschny den umgekehrten Weg gegangen und hatte aus der Figur der Tatjana eine „revolutionäre Frau“ gemacht, eine authentische Figur, gegenüber der alle anderen  nichts anderes als fremdbestimmte Marionetten sind. Bei Stefan Herheim – und wer seine Grazer Rusalka, seinen Stuttgarter Rosenkavalier, seinen Berliner Lohengrin gesehen hat, den überrascht das nicht – bei Stefan Herheim ist alles anderes. Da werden die alten Geschichten nicht nur neu erzählt, sondern gleich neu erfunden. Oder besser gesagt: sie werden mit neuen Geschichten, mit spektakulärem Theater geradezu überlagert, um nicht zu sagen zugedeckt. Gleiches geschieht auch dem Amsterdamer Eugen Onegin. Von der Intimität, von der vergeblichen romantischen Liebe, die Tschaikowski mit seinen so einschmeichelnden (vielleicht auch ein bisschen kitschigen?) Melodienbögen beschwört, bleibt bei Herheim wenig oder vielleicht auch gar nichts übrig. Bei ihm gerät der alte Dandy Onegin (warum sagen wir nicht gleich: der alternde Playboy) zufällig in ein großes Fest, das ein heutiger russischer Oligarch, der von seiner Erscheinung mehr als deutlich an Putin erinnert, ausrichtet und zufällig ist die Gattin des Oligarchen die zur reifen Dame mutierte einstige naive Tatjana. Und beide – unabhängig voneinander – erinnern sich an ihre einstige Geschichte und monologisieren sie sie sich auf ihre eigene Weise. Tatjana beschwört ihre erotischen Phantasien, in denen sie Onegin statt des Gatten im Ehebett sieht, in denen sie ihren berühmten Brief dem erhofften Liebhaber gleich in die Feder diktiert. Und Onegin sieht sich noch einmal als den blasierten Dandy der verpassten Gelegenheiten, der seinen Freund, ohne dass er es will, erschießt. Aus seinen Träumereien wecken ihn Putin und seine Bodyguards zusammen mit der Festgesellschaft –  und lachen ihn einfach aus, machen ihn zum Clown, dem Putin (bei Tschaikowski ein gewisser Fürst Gremin), bevor er mit Gattin Tatjana im Aufzug entschwindet, eine ungeladene Pistole in die Hand drückt. Liebe und Passion, auf die Tatjana längst verzichtet hat, und all das, wovon Onegin, der Mann von gestern jetzt schwärmt, das ist Schnee vom vergangenen Jahr, Müll aus einer vergangenen russischen Geschichte, nur noch als parodistisches Theaterspiel existent, die die Festgesellschaft sich und dem neuen Oligarchen zum Spaß und zum Vergnügen als Maskenfest und Karnevalsspiel aufführt. Ganz konsequent in diesem Sinne versammelt Herheim auf der Bühne die Klischeefiguren des einstigen Russlands und der einstigen Sowjetunion: den Zaren und die Popen, die Militärs in ihren  bombastischen Paradeuniformen, die Revoluzzer, die die Bauern und  die Bürger für den Marsch in den Gulag zusammentreiben, die Kolchose Bäuerinnen, die schwulen Tänzer und die Schwanensee  Ballerinen vom Bolschoi Theater, die stumpfsinnigen Leistungssportler, die kräftigen Langstreckenläuferinnen, die Astronauten und die heutige mondäne hyperreiche Amüsiergesellschaft. Wie immer  bereitet Stefan Herheim mit seiner unerschöpflichen produktiven Imagination, mit seinem Sinn für Theatereffekte, mit seiner Gabe, scheinbar Festgefügtes auseinander zu nehmen und neu und ganz anders zu erzählen, wie immer bereitet er seinem Publikum einen grandiosen Theaterabend. Seltsam nur, dass die so sanfte Musik, die Maestro Jansons mit dem „Concertgebouworkest“ zelebrierte, so gar nicht zu der lauten Szene passen wollte. Sicherlich ein gewollter Kontrast. Vielleicht ein latenter Hinweis auf den ewigen (romantischen) Gegensatz zwischen dem ’Sublimen‘ und dem ‚Grotesken‘?  –  Unnötig zu sagen, dass brillante Sängerschauspieler auf der Bühne sangen und agierten. Allen voran Bo Skovhus in der Titelrolle. Wir sahen die Vorstellung am 1. Juli. Die Premiere war am 14. Juni 2011.