Von der schönen Kapriziösen und dem tölpelhaften Bären nebst einigen politischen Implikationen. Eine Neuinszenierung der Arabella bei den Münchner Opernfestspielen 2015

Er ist, mein ich, halt ein Filmmacher? Da wird er sich halt gar nichts denken. So flüsterte mir Ariadne, die ihren Hofmannsthal kennt, nach einem einschläfernden ersten Akt in der Pause zu. Doch seien wir nicht so zynisch. Ein paar Gedanken hat sich der Filmemacher Andreas Dresen, der jetzt in der Bayerischen Staatsoper Arabella inszenieren durfte, immerhin gemacht. Zum Beispiel wird er darüber nachgedacht haben, was das denn eigentlich für ein Stück sei, das da im Libretto so scheinbar leichthin als „lyrische Komödie“ apostrophiert wird. Ist es  vielleicht ein Märchen? Das Märchen von der armen Schönen, die vom spielsüchtigen Herrn Papa an einen tollpatschigen Großbauern aus den balkanischen Wäldern verschachert wird und  die diesen gleich am ersten Abend domestiziert. Oder ist es  vielleicht eine Operette? Problemstellung im ersten, großes Fest im zweiten, happy end mit Amore und Hochzeit im dritten Akt. Oder ist es vielleicht eine Parabel, die von der Macht des Geldes erzählt? Oder ist es vielleicht gar ein politisches Stück? Fand doch die Uraufführung im fatalen Jahre 1933 statt. Oder ist es vielleicht „eine Farce und weiter nichts“? Oder vielleicht ist das Ganze, so im dritten Akt, eine Klamotte? Vornehm gesagt: Arabella ist offensichtlich ein hybrides Stück, in dem sich verschiedene Gattungsformen überschneiden und überlagern.

Die Regie greift zu Recht all diese Besonderheiten des Stücks auf – ein bisschen auf – und setzt diese bruchstückhaft in Szene, wobei ihr die Farce und  die Klamotte  und wohl auch die politische Parabel besonders zusagen. Dass der spielsüchtige Papa, die frustrierte Gattin, die sich beim Faschingsfest einen Jüngling schnappt, der liebestolle, sich Mut antrinkende Leutnant und das nicht minder liebestolle Mädchen Komödienfiguren sind  und mit ihrer Überzeichnung in die Farce oder in die Posse passen und dass die Regie sie alle entsprechend karikiert, liegt auf der Hand. Und hier bleibt sie ganz im traditionellen Rahmen.

Im Finale des dritten Akts indes da springt sie ungeniert in die Klamotte. Da kommt  der/die Zdenka schluchzend, so durchtrieben-unschuldig, im knielangen Nachthemd die Treppe herunter und will gleich ins Wasser gehen, da steht der Herr Leutnant mit offenem Hemd verdutzt in der Ecke und weiß offensichtlich nicht mehr, ob er nun hetero oder schwul oder beides ist, da will sich der Herr Mandryka gleich erschießen, und die schöne Arabella reicht ihm nicht das berühmte Glas  Wasser zur Versöhnung, sie schüttet es ihm einfach ins Gesicht. Und als er sie umarmen will, da eilt sie die Treppe hinauf und droht ihm mit dem Finger. Szenen einer künftigen Ehe. Ja, und wenn frei nach Freud  die Leiter (wahlweise Stiege und Treppe) ein Koitus Symbol ist, dann braucht unser tollpatschiger Bär sich nicht allzu viel zu erhoffen – und aus dem Märchen von der armen Schönen und dem reichen Prinzen wird wohl nicht viel werden.

Es mag ja sein, dass die Regie mit dieser finalen Klamotte uns im Publikum ein Versöhnungsbonbon reichen wollte, um die Einfallslosigkeit, die den ersten Akt bestimmt und die Tendenz zur politischen Belehrung, die im zweiten Akt dominiert, vergessen zu machen. Mit ihren mehr oder weniger aufgesetzten Verweisen auf die Uraufführungszeit, wie sie das Einheitsbühnenbild und teilweise auch die Kostüme  und nicht zuletzt auch das Verhalten des Mandryka im Finale des zweiten Akts suggerieren, schlägt die Regie in der Tat eine politische Deutung des Stücks vor. Spielort und Spielzeit sind nicht, wie es das Libretto will, Wien und die Zeit um  das Jahr 1860. Spielort sind zwei gigantische  ineinander übergehende Treppenbögen. Auf, unter und neben diesen entwickelt sich das Geschehen. Sollen die Treppenbögen auf die Gigantomanie der Naziarchitektur verweisen?  Sollen sie an die bühnenwirksamen Auftritte der Mächtigen jener Zeit erinnern? Sollen die Fiaker in ihrer dunklen Lederkleidung, die immer wieder wie kontrollierende Polizisten über die Treppen schreiten, an die bekannten Kohorten des Regimes erinnern? Wären in diesem Kontext die beiden Schlapphüte, die Mandryka begleiten, keine Lakaien, sondern Gestapomänner? Ist dieser Mandryka, wie er  im schwarzen Outfit und mit schwarzen Stiefeln daher kommt und der im Finale des zweiten Akts so berserkerhaft und brutal auftritt, vielleicht einer der Mächtigen des Regimes? Ist diese sich so bescheiden und demütig gebende Arabella („Und du wirst mein Gebieter sein und ich dir untertan“) vielleicht das Ideal der deutschen Frau, wie  es die Mächtigen jener Zeit verlangten?  Soll es uns  im Zuschauerraum ein bisschen gruseln, vor allem dann, wenn wir zuvor im Programmheft gelesen haben, dass „Arabella ein Lieblingsstück von Hitler und den Nationalsozialisten“ war und von diesen zum „Aushängeschild  nationalsozialistischer  Kunstrepräsentation“ stilisiert wurde (Timothy L. Jackson, S. 117).

Arabella, eine Farce und eine politische Parabel, die von Naziideologie durchtränkt ist, ein Stück, in dem der Komponist – ganz im Sinne des Regimes – auf alle Dissonanzen und alle ‚Neutönerei‘  verzichtet?

Wenn man das so sehen will. Ich spreche da lieber von Kitsch und weiß dabei den Komponisten auf meiner Seite: „Muss man 70 Jahre  alt werden, um zu erkennen, dass man eigentlich zum Kitsch die meiste Begabung hat?“ – so schreibt mit milder Selbstironie Richard Strauss im Rückblick auf den „riesigen Theatererfolg“ der Arabella an Stefan Zweig (zitiert nach dem Programmheft zur Arabella in der Inszenierung vom Jahre 2008 der Staatsoper Hamburg, S. 31).

Die Arabella Kitsch? Ja, aber ein schöner Opernkitsch, wo die Arabella vom Dienst, Anja Harteros, so wunderschön und zugleich berührend Strauss zu singen weiß, sich so kapriziös zu geben weiß, ohne allzu sehr auf Zicke zu machen. Ein Star, eine Idealbesetzung für die Rolle der Arabella.

Wir sahen die Aufführung am 14. Juli 2015. Die Premiere war am 6. Juli 2015.

 

 

Ein todessüchtiger Romeo, eine traumatisierte Giulietta, ein italo-amerikanisches Mafia-Ambiente der 20er Jahre. Christof Loy inszeniert i Capuleti e i Montecchi an der Oper Zürich

Gleich zur Ouvertüre liegt das großbürgerliche Haus der Capuleti voller  blutiger Leichen. Gleich zur Ouvertüre springt das Mädchen Giulietta, das gerade im weißen Unschuldskleidchen die Erstkommunion gefeiert hat, dem Vater auf den Schoß. Gleich zur Ouvertüre nähert sich der noch jugendliche Vater im Badezimmer dem Mädchen von hinten. Gleich zur Ouvertüre hält Giulietta in einer Pietà Geste den gerade erschossenen Bruder in ihren Armen. Bilder, die die Drehbühne wie bei einem schnellen Filmschnitt dem Zuschauer aufdrängt. Bilder, die zugleich die Grundkonzeption der Regie sowie die Leithemen offenlegen.

Christof Loy erzählt keine Geschichte aus einem fernen spätmittelalterlichen Verona. Er erzählt keine Liebesgeschichte. Er erzählt die Geschichte einer traumatisierten jungen Frau und eines dem Todestrieb verfallenen jungen Mannes. Giulietta singt zwar von der romantischen Liebe, von der Passion, die auch die eigene Vernichtung nicht scheut. Doch diese Giulietta kommt aus dem vom eigenen Vater gesetzten Trauma nicht los, von der inzestuösen Bindung an die dominante Vaterfigur. Erst als der Vater sie verstößt, da kann und will sie mit dem Geliebten fliehen. Erst da gelten die klassischen und offensichtlich nur vorgetäuschten ‚Tugenden‘ der Ehre und der Familienzwänge nicht mehr. Erst da ist das inzestuöse Trauma überwunden.

Man mag diese freudianische Deutung der Giulietta Figur, die so ganz den Klischees widerspricht, für abwegig halten. Doch konsequent und stringent ist sie im Rahmen der Inszenierung alle Male. Romeo und Julia können nicht zusammenkommen, nicht weil die rivalisierenden Gangster eine Verbindung verhindern, sondern weil die Verbindung zwischen Vater und  Tochter keinen Platz für einen Dritten lässt und – dies ist das zweite Leitthema der Inszenierung – weil dieser Dritte ein Todessüchtiger ist, in den Tod verliebt ist und gleichsam eine homoerotische Verbindung mit der Todesfigur eingegangen ist. Dieser Tod ist kein Gespenst und kein Knochenmann. Er ist ein melancholischer junger Mann. Er ist stets präsent, ist Romeos (ganz wie sich dieser im Finale eingesteht) „ständiger Begleiter“. Dieser Begleiter reicht Romeo den fatalen Gifttrank, öffnet ihm das Fenster zu Giuliettas Zimmer, ist beim Angriff auf die Hochzeitsgesellschaft, beim Streit mit dem Rivalen wie auch bei der vergeblichen Friedensmission mit dabei. Romeo ist im Wortverstande ‚mitten im Leben vom Tod umfangen‘. Und ein gleiches gilt, wenn auch in geringerem Maße und mit einer überraschenden Schlusswendung, auch für Giulietta. Der stumme Todesjüngling reicht ihr den Betäubungstrank und trägt sie auf seinen Armen. Nur im Finale da entgeht sie anders als Romeo der Macht des Todes. Sie stirbt dem Geliebten nicht nach, sie stürzt davon und findet sich wieder in einem dämmerigen Zimmer voller blutiger Leichen, voller eben zu Tode gekommener Gangster. Endet sie wie Ophelia im Wahnsinn? Hat sich die eben ereignete Geschichte nur in ihrem Wahn ereignet, und wird sie sich in einer Endlosschleife immer wieder neu ereignen? Die Regie lässt die Frage offen.

Loys Inszenierung der I Capuleti e i Montecchi ist zweifellos ein Highlight, eine Inszenierung, die kein museales Kostümfest ist, die statt dessen den Mythos von Romeo und Julia aktualisiert, ohne ihn zu vergewaltigen, die mit der Herausstellung des latenten Inzestmotivs und des Todestriebs eine überraschende, faszinierende und zugleicht überzeugende Variante des Mythos vorschlägt.

Und die Musik? Für Bellini, so hat man oft gesagt, genügen zwei oder drei herausragende Stimmen, und ein Fest des Belcanto ist vorprogrammiert. In Zürich, wo Joyce DiDonato den Romeo und Olga Kulchynska die Giulietta singen, erlebt das Publikum ein grandioses Fest des Belcanto. Dort verbinden sich Belcanto und Inszenierung zu einer Aufführung, wie man sie sich kaum besser und schöner vorstellen kann. Zürich bietet wieder einmal Oper vom Allerfeinsten.

Wir sahen die Vorstellung am 12. Juli 2015. Die Premiere war am 21. Juni 2015.

 

 

„Alle Mythen zerrinnen“. Konstanze bei den Islamisten in der Wüste – ohne happy end. In Aix-en-Provence inszeniert Martin Kusej Die Entführung aus dem Serail provokativ gegen den Strich

All das Gerede von Aufklärung, Toleranz, Gutmenschentum, all das sind Mythen, die nichts mit der Welt von Heute zu tun haben, Mythen, die zerronnen sind. Was zählt, das sind Dummheit, Fanatismus, Gewalt, Rachsucht, Sadismus, Mord. Mag dieser Lawrence von Arabien Verschnitt (im Libretto ein gewisser Selim Bassa) seinen Sadismus auch in Masochismus verwandeln und die vier „Verräter“, die vier „Ungläubigen“ im letzten Moment vor dem schon angetretenen Exekutionstrupp  retten, sein Unterführer (im Libretto ein gewisser Osmin) ermordet sie trotzdem. Und präsentiert zu den Schlussakkorden seinem Kommandanten, nein nicht die abgeschlagenen Köpfe, diese Szene hat man aus aktuellem Anlass gestrichen, sondern die blutigen Kleider der „Ungläubigen“.

In Aix zertrümmert die Regie das Libretto, aktualisiert es, verlegt es in die arabische Wüste, macht die Paare zu Geiseln einer islamischen Soldateska und ihres zum Islam konvertierten europäischen Anführer. In dieser Welt haben die Geiseln keine Überlebenschance. Sie werden bei der Flucht in die Wüste wieder eingefangen und  …

Aus der naiven und verlogenen Orientmode und aus den Aufklärungsträumereien, wie sie uns Libretto, Musik und so viele Inszenierungen vorgaukeln wollen, ist hartes, grausames, aktuelles Dokumentationstheater geworden, ein Theater, das uns inzwischen vertraute Bilder aus der islamischen Propagandamaschine nachstellt. In dieser Welt sind die rührenden Liebesseufzer eines Belmonte nur ironische Zitate aus einem längst vergangenen, ‚dekadenten Europa’, ist die Traurigkeitsarie der Konstanze nur Begleitmusik für die sich am eben geschlachteten Hammel gut tuende Soldateska, die die Arme wohl gleich auch noch vergewaltigen wird. In dieser Welt ist Pedrillos Romanze nur die Wahnszene eines vor Durst- und Angst Zusammenbrechenden, ist Osmins Rachearie keine Parodie, sondern brutale Wirklichkeit.

Ja, bei dieser in sich so konsequenten und packenden Inszenierung bleibt Mozart auf der Strecke, wird seine Musik genauso ad Absurdum geführt wie alle Aufklärungsideologie. Eine der typischen Kusej-Inszenierungen, die es darauf anlegen, die dunklen, die verborgenen, die Nachtseiten der Stücke ins grelle Licht zu rücken.

Keine Frage, dass die Gesangssolisten, allen voran Jane Archibald als Konstanze und Daniel Behle als Belmonte  das wenige Sublime, das bei dieser Inszenierung noch übrig bleibt, mit ihrer Kunst zu retten wissen.

Wir sahen die Aufführung am 06. Juli 2015 im Théâtre de l’Archevêché, die 2. Vorstellung der laufenden Serie. Das Publikum hat’s genossen: die Musik, die „geläufigen Gurgeln“, die Brutalitäten der Inszenierung, die Verweise auf die Welt von Heute? Ich weiß es nicht.

Kein Ariadnefaden im Neuenfels Labyrinth. Ariadne auf Naxos an der Staatsoper im Schiller Theater

Das Feuilleton ist begeistert und überschüttet Produktionsteam und Gesangstars nur so mit Lobenshymnen. Die eingeschüchterte Besucherin, will sie nicht als mieser kleiner Beckmesser erscheinen, wagt es kaum, ein paar kritische Anmerkungen anzubringen. Wagen wir es trotzdem und riskieren es, brutta figura zu machen.

Kein Makel haftet dem Musik-Part an – da sind wir mit den Feuilletonisten einig. Schöner und ergreifender als Camilla Nylund die Ariadne und  Marina Prudenskaya den Komponisten gestaltet und brillanter als Brenda Rae als Zerbinetta singt und agiert geht es wohl nicht. Und  Roberto Saccà, den wir als Bacchus zuletzt in Zürich und Düsseldorf gehört und gesehen haben, ist  zur Zeit in den Musiktheatern  der Bacchus vom Dienst und in dieser Rolle wohl nicht zu übertreffen. Dass Maestro Metzmacher auf einen sanften Strauss setzt, jede Orchesterstimme hervortreten lässt, gerade das Kammermusikalische der Partitur betont, das überrascht nicht. Es fasziniert. So wird denn im Schillertheater Orchesterklang und Gesang der Spitzenklasse geboten – eben so wie man es von einem renommierten Haus erwartet.

Und die Inszenierung? Da bin ich mit den hymnisch gestimmten Feuilletonisten  nicht einig. Was will die Regie eigentlich? Was ist ihre Grundkonzeption? Wir wollen dem großen Theatermacher gegenüber nicht unfreundlich sein. Doch was da auf der Bühne geboten wird, das ist  bei all seiner Theaterwirksamkeit recht inkohärent. Beabsichtigte Inkohärenz? Will die Regie uns einen altösterreichischen Zitatensalat anrichten?  Im Vorspiel vielleicht auf die berüchtigten Heimatfilme verweisen, wenn sie von Kostüm und Maske her den Haushofmeister in eine Art Hans Moser- und Zerbinetta in eine Art Johanna Matz Verschnitt ‚verwandelt‘?  Wird das Ganze dann mit Motiven aus der Militärklamotte der K. u. k. Zeit  aufgemischt, auf dass wohlfeil an die Entstehungszeit und die Uraufführung der Oper mitten im ersten Weltkrieg erinnert werden kann? Der zackige, leicht verblödete Offizier, die Zerbinetta-Truppe in Drillichanzügen, die wohl gerade Fronturlaub hat, weisen sie in diese Richtung?

Nach einer langen Pause, die , ob gewollt, ob ungewollt, den Zusammenhang zwischen Vorspiel und opera seria zerstört, sind wir  im zweiten Teil wohl in einer Art Spital, das mit Trümmern aus der Antikensammlung übersät ist. Ja, wir wissen schon, die scheinbar so heile Welt der Herren Strauss und Hofmannstal liegt in Trümmern. Zerstört ist auch die Psyche der schwer depressiven „hochmächtigen Prinzessin“, um die sich gleich drei Rotekreuz-Schwestern bemühen. Ein gut aussehender Herr mittleren Alters  spielt für die depressive Dame  sogar einen antiken Gott  und setzt sich zu diesem Zwecke schon mal nach Dionysos Manier eine Leoparden Maske auf. „Es ist alles vergebens“. So wenig wie der Sänger im Drillichanzug kann auch der Herr (ein wohl eigens engagierter Schauspieler) der Dame helfen. So verdrückt er sich dann einfach in den Orchestergraben, und die Dame erdolcht sich mit dem Mordinstrument, das in der Hermesstatue steckt, die ihr eine heidnisch-katholische Priesterschar in einer Prozession herbeigeschafft hat: die Paganen in Masken, die vielleicht auf das Gefolge des Dionysos verweisen sollen, die Katholiken in Todesmasken unter einem Baldachin, der wohl an die Fronleichnamsprozession erinnern soll. Dann geistert noch so eine Art Puppenspieler durch die Szene, der mit zwei griechischen Masken, Schauspielermasken, spielt und der, so entnehmen wir es dem Schriftzug auf seinem Hemd, das Schicksal darstellen soll.

Unser so berühmter Theatermacher hat wieder einmal in seine Zauberkiste gegriffen und  uns auf der Basis von Hofmannsthal Materialien ein neues  Stück eingerichtet. Zweifellos ein unterhaltsames Stück, das in vielerlei Richtungen verweist: ein bisschen Mythos, ein bisschen griechisches Theater, ein bisschen Kino, ein bisschen Religionskritik, ein bisschen Gesellschaftskritik, ein bisschen Metatheater, ein bisschen… Von allem ein bisschen und für alle ein bisschen. ‚Postmodern‘ nannte man so ein Verfahren im vergangenen Jahrhundert. In der nächsten Spielzeit gehe ich wieder zur Ariadne – in Düsseldorf.

Wir sahen die Aufführung am 20. Juni 2015, die dritte Vorstellung nach der Premiere am 14. Juni 2015.

 

 

Bombenstimmung in Basel. Calixto Bieito zertrümmert Così fan tutte und erfindet den dritten Akt

Ja, das wollten wir schon immer wissen. Was machen die (scheinbar?) versöhnten Paare eigentlich – danach?  Machen sie weiter mit ihrem Projekt „Gespielte Liebe“? Werden sie biedere Ehepaare? Fragen, für die einst Ponnelle, der so viele Male Così fan tutte in Szene gesetzt hatte, nur Hohn und Spott übrig hatte: Fiordiligi bleibt an der Seite Guglielmos frigide. Er wird sie dauernd betrügen. Ferrando wird impotent. Dorrabella bleibt flatterhaft. „Also ein Desaster. Und darüber freut sich Don Alfonso“.

Fragen, die dreißig Jahre nach Ponnelle Theatermacher Bieito ernsthaft beunruhigen. So schafft er denn in Basel Lorenzo Da Ponte einfach ab, lässt Mozart die Highlights (gruppiert sie allerdings neu), streicht radikal alle Rezitative, ersetzt sie durch Lyrik von Houellebecq, triste Liebeslyrik, und erfindet – so der Untertitel der Basler Così fan tutte Variante – „Eine Geschichte über Liebe, Enttäuschung und Wunschträume“.… → weiterlesen

Tartuffe bei der schottischen Sektengemeinde – und Ginevra packt die Koffer. Ariodante beim Festival d‘ Aix-en-Provence

Bietet Aix-en-Provence im allsommerlichen Festspielreigen wirklich etwas Besonderes? Wer es liebt, Oper live nach Mitternacht zu hören und zu sehen, der sollte Aix-en-Provence nicht versäumen. Dort spielt man Ariodante im Innenhof des ehemaligen erzbischöflichen Palasts, beginnt gegen 21 Uhr und endet gegen 1.30 Uhr. Und um Mitternacht da gibt es zum Finale des zweiten Akts eine ungewollte Einlage. Nein, dieses Mal streiken nicht die „Intermittents“, klappern nicht deren Sympathisanten mit Kochtöpfen. Nein, die Intermittents hatten schon vor Aufführungsbeginn einen kurzen Auftritt, trugen schön zivilisiert ihre Forderungen an den französischen Staat vor und erklärten sich arbeitsbereit. Dieses Mal lärmten wohl auf der nahen Place de l’Hôtel de Ville  andere Kunstbegeisterte. So gab es denn zum Lamento der Ginevra und zur Ballettmusik afrikanischen Trommelwirbel als Basso continuo. Bewundernswert, wie sich Ginevra alias Patricia Petibon von diesem außerplanmäßigen Basso continuo nicht stören ließ und so brillant wie bisher einfach weiter sang und spielte. Und sagen wir es bei dieser Gelegenheit gleich: Madame Petibon war an diesem Abend von Gesang und Spiel und Bühnenerscheinung und nicht zuletzt auch von der Regiekonzeption her der unumstrittene Star des Abends. Wie sie sich vom unbedarften verliebten Mädel, das an Papa und Liebhaber gleichermaßen hängt, zur ‚emanzipierten‘ jungen Frau wandelt, wie sie sich vom dümmlichen Bräutigam und vom machtlüsternen Papa, die sie, unabhängig voneinander, doch letztlich gemeinsam, nahezu in den Wahnsinn getrieben hatten,  wie sie sich von diesen löst und dem Terror entflieht, all dies ist schon bewundernswert – und von der Regie stringent und überzeugend angelegt.

Ich bin nicht unbedingt ein Fan des Regie-Duos Jones und Utz. Ganz im Gegenteil. Ihren Münchner Lohengrin (Häuslebauer Elsa vertreibt den Zimmermann) fand ich einen ärgerlichen Flop. Doch ihre Ariodante-Version ist intelligent und stimmig. Mit einem Wort: sofistecated.  Die Regie verlegt das Geschehen aus einem pseudomittelalterlichen in das klaustrophobische Ambiente einer Sektengemeinde der siebziger Jahre. Ganz im Sinne dieser Klaustrophobie spielt sich alles Geschehen in einem einzigen Raum ab. Es gibt keine Privatheit. Es gibt nur öffentlichen Tugendterror. In dieser schottischen Sektengemeinde hat ein machtgieriger und sexgeiler Tartuffe (bei Händel der Intrigant Polinesso) das Sagen, eine Rolle, die Sonia Prina mit geradezu umwerfendem komödiantischem Talent gestaltet. Die Brüder Ariodante und Lucarnio sind, obgleich sie wohl schon länger zum Clan gehören, blasse Fremde geblieben und werden so umso leichter Opfer der Intrige.

In Aix spielt man Ariodante ohne Striche und noch dazu mit der Ballettmusik und gibt das Ballett als Marionettentheater. Marionetten stellen Ginevra und Ariodante dar, spielen als Theater auf dem Theater den Protagonisten ihr Geschick vor. Im zweiten Akt Ginevras Albtraum von ihrer Degradierung zur Hure und von ihrer Vernichtung. Im ersten und im dritten Akt (dort als scheinbares lieto fine)  die Hochzeit- und die Familienidylle. Und jetzt im Finale signalisiert das Marionettenspiel noch eine zusätzliche Pointe. Ginevra flieht nicht nur vor dem Tugendterror  der Gemeinde und der Erbärmlichkeit ihres Liebhabers. Sie flieht auch vor der drohenden Idylle.  Sie packt einfach die Koffer und geht.

So wird in der Jones/Utz Version aus einer Händel Oper, die sich einst an einer Episode aus dem Orlando Furioso orientierte, ein modernes Emanzipationsstück, das die Männer zu lüsternen Intriganten und dümmlichen Trotteln und die Frau zur Primadonna im Wortverstande macht. Ein Stück, das von der ‚Selbstfindung‘ einer modern jungen Frau erzählt – und dies zu einer Musik, die zwar wie in der berühmten „Scherza infida“ Arie ihre Melancholie Exzesse auskostet, die aber, wie zurecht Maestro Andrea Marcon bemerkt, von „Spontaneität“ und „Frische“ bestimmt wird. Und entsprechend präsentieren sie auch Marcon und das Freiburger Barockorchester.

Bietet das Festival d‘Aix-en-Provence wirklich etwas Besonderes? Grämt nicht die lange Fahrt? Beim Ariodante sind Orchesterklang und Gesang und Inszenierung wohl vom Allerfeinsten. Das Ambiente indes enttäuscht. In den Innenhof des barocken Palasts hat man eine riesige Guckkastenbühne mit Bühnenhaus und Orchestergraben gesetzt und damit die ‚Aura‘ des Patio zerstört. Doch für all dies entschädigen ein brillantes Ensemble und das Licht und die Farben der Provence. Ob ich noch einmal hinfahre? Mag sein. „Die lange Fahrt, die geht zu End‘; ehe noch die Sonne sinkt“.

Wir sahen die Aufführung am 18. Juli 2014.