Er ist, mein ich, halt ein Filmmacher? Da wird er sich halt gar nichts denken. So flüsterte mir Ariadne, die ihren Hofmannsthal kennt, nach einem einschläfernden ersten Akt in der Pause zu. Doch seien wir nicht so zynisch. Ein paar Gedanken hat sich der Filmemacher Andreas Dresen, der jetzt in der Bayerischen Staatsoper Arabella inszenieren durfte, immerhin gemacht. Zum Beispiel wird er darüber nachgedacht haben, was das denn eigentlich für ein Stück sei, das da im Libretto so scheinbar leichthin als „lyrische Komödie“ apostrophiert wird. Ist es vielleicht ein Märchen? Das Märchen von der armen Schönen, die vom spielsüchtigen Herrn Papa an einen tollpatschigen Großbauern aus den balkanischen Wäldern verschachert wird und die diesen gleich am ersten Abend domestiziert. Oder ist es vielleicht eine Operette? Problemstellung im ersten, großes Fest im zweiten, happy end mit Amore und Hochzeit im dritten Akt. Oder ist es vielleicht eine Parabel, die von der Macht des Geldes erzählt? Oder ist es vielleicht gar ein politisches Stück? Fand doch die Uraufführung im fatalen Jahre 1933 statt. Oder ist es vielleicht „eine Farce und weiter nichts“? Oder vielleicht ist das Ganze, so im dritten Akt, eine Klamotte? Vornehm gesagt: Arabella ist offensichtlich ein hybrides Stück, in dem sich verschiedene Gattungsformen überschneiden und überlagern.
Die Regie greift zu Recht all diese Besonderheiten des Stücks auf – ein bisschen auf – und setzt diese bruchstückhaft in Szene, wobei ihr die Farce und die Klamotte und wohl auch die politische Parabel besonders zusagen. Dass der spielsüchtige Papa, die frustrierte Gattin, die sich beim Faschingsfest einen Jüngling schnappt, der liebestolle, sich Mut antrinkende Leutnant und das nicht minder liebestolle Mädchen Komödienfiguren sind und mit ihrer Überzeichnung in die Farce oder in die Posse passen und dass die Regie sie alle entsprechend karikiert, liegt auf der Hand. Und hier bleibt sie ganz im traditionellen Rahmen.
Im Finale des dritten Akts indes da springt sie ungeniert in die Klamotte. Da kommt der/die Zdenka schluchzend, so durchtrieben-unschuldig, im knielangen Nachthemd die Treppe herunter und will gleich ins Wasser gehen, da steht der Herr Leutnant mit offenem Hemd verdutzt in der Ecke und weiß offensichtlich nicht mehr, ob er nun hetero oder schwul oder beides ist, da will sich der Herr Mandryka gleich erschießen, und die schöne Arabella reicht ihm nicht das berühmte Glas Wasser zur Versöhnung, sie schüttet es ihm einfach ins Gesicht. Und als er sie umarmen will, da eilt sie die Treppe hinauf und droht ihm mit dem Finger. Szenen einer künftigen Ehe. Ja, und wenn frei nach Freud die Leiter (wahlweise Stiege und Treppe) ein Koitus Symbol ist, dann braucht unser tollpatschiger Bär sich nicht allzu viel zu erhoffen – und aus dem Märchen von der armen Schönen und dem reichen Prinzen wird wohl nicht viel werden.
Es mag ja sein, dass die Regie mit dieser finalen Klamotte uns im Publikum ein Versöhnungsbonbon reichen wollte, um die Einfallslosigkeit, die den ersten Akt bestimmt und die Tendenz zur politischen Belehrung, die im zweiten Akt dominiert, vergessen zu machen. Mit ihren mehr oder weniger aufgesetzten Verweisen auf die Uraufführungszeit, wie sie das Einheitsbühnenbild und teilweise auch die Kostüme und nicht zuletzt auch das Verhalten des Mandryka im Finale des zweiten Akts suggerieren, schlägt die Regie in der Tat eine politische Deutung des Stücks vor. Spielort und Spielzeit sind nicht, wie es das Libretto will, Wien und die Zeit um das Jahr 1860. Spielort sind zwei gigantische ineinander übergehende Treppenbögen. Auf, unter und neben diesen entwickelt sich das Geschehen. Sollen die Treppenbögen auf die Gigantomanie der Naziarchitektur verweisen? Sollen sie an die bühnenwirksamen Auftritte der Mächtigen jener Zeit erinnern? Sollen die Fiaker in ihrer dunklen Lederkleidung, die immer wieder wie kontrollierende Polizisten über die Treppen schreiten, an die bekannten Kohorten des Regimes erinnern? Wären in diesem Kontext die beiden Schlapphüte, die Mandryka begleiten, keine Lakaien, sondern Gestapomänner? Ist dieser Mandryka, wie er im schwarzen Outfit und mit schwarzen Stiefeln daher kommt und der im Finale des zweiten Akts so berserkerhaft und brutal auftritt, vielleicht einer der Mächtigen des Regimes? Ist diese sich so bescheiden und demütig gebende Arabella („Und du wirst mein Gebieter sein und ich dir untertan“) vielleicht das Ideal der deutschen Frau, wie es die Mächtigen jener Zeit verlangten? Soll es uns im Zuschauerraum ein bisschen gruseln, vor allem dann, wenn wir zuvor im Programmheft gelesen haben, dass „Arabella ein Lieblingsstück von Hitler und den Nationalsozialisten“ war und von diesen zum „Aushängeschild nationalsozialistischer Kunstrepräsentation“ stilisiert wurde (Timothy L. Jackson, S. 117).
Arabella, eine Farce und eine politische Parabel, die von Naziideologie durchtränkt ist, ein Stück, in dem der Komponist – ganz im Sinne des Regimes – auf alle Dissonanzen und alle ‚Neutönerei‘ verzichtet?
Wenn man das so sehen will. Ich spreche da lieber von Kitsch und weiß dabei den Komponisten auf meiner Seite: „Muss man 70 Jahre alt werden, um zu erkennen, dass man eigentlich zum Kitsch die meiste Begabung hat?“ – so schreibt mit milder Selbstironie Richard Strauss im Rückblick auf den „riesigen Theatererfolg“ der Arabella an Stefan Zweig (zitiert nach dem Programmheft zur Arabella in der Inszenierung vom Jahre 2008 der Staatsoper Hamburg, S. 31).
Die Arabella Kitsch? Ja, aber ein schöner Opernkitsch, wo die Arabella vom Dienst, Anja Harteros, so wunderschön und zugleich berührend Strauss zu singen weiß, sich so kapriziös zu geben weiß, ohne allzu sehr auf Zicke zu machen. Ein Star, eine Idealbesetzung für die Rolle der Arabella.
Wir sahen die Aufführung am 14. Juli 2015. Die Premiere war am 6. Juli 2015.