Kein fernöstliches Märchen und erst recht kein ironisiertes Märchen oder gar ein Metamärchen, wie es einst Carlo Gozzi in Venedig mit dem Titel Turandot schrieb, ist in Nürnberg zu sehen. Dort transformiert man Puccinis Oper in eine krude Parabel, nein, besser: in ein krud-realistisches Drama aus dem chinesischen Gulag oder, wenn man so will, in eine Dokumentation aus Maos Reich mit uniformierten und terrorisierten Arbeitsbienen, mit prügelnden und folternden Militärs, mit einem vergreisten, siechen und debilen Herrscher und einer hochgradig gestörten glatzköpfigen Dame mittleren Alters, die ihren sexuellen Frust in blutige Gewalt und diktatorische Machtgelüste umsetzt. Alles ‚Heitere‘, das einst Goethe an Gozzis Märchen rühmte bzw. alles Buffohafte, das sich im Libretto – zum Beispiel in der Szene der drei Minister findet – ist gestrichen. Es sei denn, man findet den schwulen Tanz, den die Folterknechte in Frauenkleidern hinlegen, erheiternd.
Warum der Fremde, der da mit dem Fahrrad in die Lagerhalle kommt, dort seinen gefolterten und schon moribunden Vater und das in ihn verliebte Mädchen trifft, unbedingt die Monsterfrau bändigen, erlösen und lieben will und dafür noch „Martern aller Arten“ für sich und Folterung und Selbstmord des schönen Mädchens in Kauf nimmt, das bleibt das Geheimnis des Librettos und der Regie. All diese Opfer – so die nihilistische Pointe im Finale, wie sie die Regie als Pantomime darstellen lässt, waren vollkommen sinn- und nutzlos. Die Arbeitsbienen wollen von dem vermeintlichen Erlöser gar nichts wissen, und die Gestörte malträtiert Puppen. „Ein Frauenschicksal“ will sie wohl nicht. In ihrem Wahn zerstört sie wohl eher ihre wirtschaftliche Existenz: die für den Export nach Europa bestimmten Puppen, die vermutlich in den reichlich vorhandenen Pappkartons in der Lagerhalle gespeichert werden.
Turandot ein modernes Antimärchen, das von der Liebe: von der erlösenden Liebe des Prinzen Calaf zur Prinzessin Turandot und vom Liebestod der armen Liù erzählen will und das in dieser scheinbar so schön-sentimentalen Geschichte Gewalt und Folter, Tod und Sadismus, Sinnlosigkeit und Nihilismus aufdeckt. Eine Deutung, die die Regie stringent und gekonnt, überzeugend und beeindruckend in Szene setzt.
Calixto Bieito, einst das für Sex and Crime und höhnisches Gelächter zuständige Enfant terrible des Regietheaters, das gern in den tieferen Schichten wühlte und dort für manchen Zuschauer Unangenehmes fand und enthüllte, ist im Laufe der Jahre weniger drastisch und auch weniger plakativ geworden. Seine Deutungen schockieren nicht mehr. Sie irritieren allenfalls ein wenig unser Abonnement Publikum: „Ach, dieser Spanier macht das. Das muss ja ganz schrecklich sein“ – so die Dame neben mir zu ihre Freundin. Schrecklich war es nicht. Doch eins, was mir das Markenzeichen des Theatermachers Bieito erschien, habe ich in dieser Nürnberger Turandot Inszenierung vermisst. Das höhnische oder auch befreiende Gelächter, mit dem sich die Regie von all der Gewalt und all dem Sadismus, die sie auf der Bühne präsentiert, zu distanzieren pflegte: ein Gelächter, wie es zum Beispiel das Finale der Stuttgarter Jenufa bestimmte.
Und Puccinis Musik? Das Nürnberger Ensemble, wie wir es u. a. bei den Hugenotten und zuletzt in der konzertanten Aufführung von La Damnation de Faust erlebten, zeigt sich auch bei der Turandot in Hochform. Brillante Sänger und Sängerinnen: ein Vergnügen, sie zu hören.
Wir sahen die Aufführung am 30. Dezember 2014. Die Premiere war am 4. Oktober 2014.
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