Parsifal im Drogenrausch unter kriminellen Pennern. Eine Wiederaufnahme einer Calixto Bieito Inszenierung an der Oper Stuttgart

„Heut – hast du’s erlebt“ – wie Theater und ‚Wirklichkeit‘ geradezu bruchlos ineinander übergehen. Heut am Karfreitag 2018.

Ein erster Frühlingstag in Stuttgart. Im Schlossgarten, unweit vom Schauspielhaus, dem Opernhaus, dem Landtag, der Residenz der Landesregierung, kampieren auf den Wiesen wie alle Jahre wieder die Romas, krakeelen die angetrunkenen Penner, machen die Bettler aus nahen und fernen Landen die Bürger an – auf ihrem Osterspaziergang zum Musentempel. Trash, Trash! überall Trash! „Wohin ich forschend blick“. Draußen vor der Tür und drinnen auf der Bühne.

Die guten Bürger erwarten dort keine Gralsburg, kein „geweihter Ort“, keine festlich und fromm verkleideten Mimen. Auf eine herunter gebrochene Autobahnbrücke, auf verkohlte Baumgerippe, auf eine Horde von Kriminellen treffen sie. Eine Horde von Gewalttätern, Sexgeilen, Kinderschändern und Drogensüchtigen tummelt sich auf der   Szene. Sie alle harren der „Erlösung“, konkret: der Drogenration, die der angeblich kranke Boss ihnen verweigern will. Wenn nicht der Boss, dann soll ein anderer die „Erlösung“ bringen. „Der reine Tor“ ist nicht minder drogensüchtig und gewalttätig. Zum sogenannten Abendmahl, bei dem der herunter gekommene Haufen endlich seine Kügelchen bekommt und zusammengeklaute liturgische Gefäße als Trophäen präsentieren darf, schläft der Neuankömmling erstmal seinen Rausch aus. Der  geschwätzige Kapo Gurnemanz hat ihm wohl zu viele Kügelchen zugesteckt… → weiterlesen

Faust und Marguerite am Montmartre: Métrostation Stalingrad. Frank Castorf inszeniert Gounod

Gounod ist das nicht ein bisschen zu süßlich? Ein bisschen zu kitschig? Ein bisschen zu populär? Mag sein. Doch die Serie der Opernschlager, für die Gounods Name steht, hört man immer wieder gern. Valentins Gebet, Fausts Arie „Salut demeure chaste et pure“, die Ballade vom König von Thule, Marguerites Juwelenarie, das berühmte Liebesduett in der Gartenszene usw.

Zum Stuttgarter Faust, das sag ich gleich, bin ich nicht wegen der Musik, sondern wegen der Inszenierung gegangen. Keine Frage. Theatermacher Castorf ist ein inzwischen etwas in die Jahre gekommenes Enfant terrible des ‚Regietheaters‘. Doch jetzt bei seinem Stuttgarter Faust hat er noch einmal seine große Theaterkiste aufgemacht und mit seinen Versatzstücken und den üblichen Brecht Klischees eine höchst theaterwirksame Faust Erzählung in Szene gesetzt.

Spielort ist Paris. Paris und die Klischees von der Kleinbürgerwelt und der dieser entsprechenden Vergnügungswelt des Montmartre. Faust und Mephisto sind nichts anderes als zwei vergnügungs- und sexsüchtige junge Männer. Marguerite ist zwar keine Schwester von Irma la Douce, sondern eher eine junge Frau, die gern ausgeht, in den Bistros dem Wein zuspricht, lesbischen Beziehungen nicht abgeneigt ist (nicht von ungefähr ist die Rolle des Siebel mit einer jungen Frau besetzt), die schon mal als ‚femme entretenue‘ arbeitet oder auch schon mal in einer Fabrik oder in einer Bar ihr Geld verdient. Eine fromme Lösung, wie sie Musik und Libretto wollen, hat die Regie nicht vorgesehen. Im Finale sitzt Marguerite nicht im Kerker, sondern hockt mit ihren Freundinnen Marthe und Siebel in einer Kleinwohnung. Als Faust sich davon macht, greift sie nach der Flasche mit dem Gift, die der greise Faust im Bistro liegen gelassen hatte. Ob sie sich mit dem Gift umbringt? Der Schluss bleibt offen.

Castorf wäre nicht Castorf, wenn seine Inszenierung nicht den berüchtigten gesellschaftskritischen Touch bekäme. Gespielte Zeit ist die Zeit des Algerienkriegs, die Fünfzigerjahre. Valentin ist ein Troupier, der aus Algerien zurückkehrt und an die Wände der Métrostation die politische Parole „Algérie francaise“ pinselt. Zum heroischen Militärmarsch blendet das Video Szenen aus einem Kriegsfilm ein: Flucht und Tod eines Soldaten. Das Spiel mit den Videos, das inzwischen in vielen Inszenierungen geradezu obligatorisch geworden ist, nutzt Castorf auf seine Weise. Seine Videos präsentieren das Kontrastprogramm zum Geschehen auf der Bühne, fungieren gleichsam als ironische und sarkastische Replik  auf das Geschehen. Wenn Faust und Marguerite in der Gartenszene, die bei Castorf konsequenterweise im Bistro spielt, ihr berühmtes Liebesduett singen, zeigt das Video Ausschnitte aus Doris Day Filmen und Sequenzen aus der Waschmittelwerbung. Wenn Marguerite sich im Finale noch einmal ihrer großen Liebe erinnert, zeigt das Video Ausschnitte aus einer Liaisons dangereuses Verfilmung usw.

Um es ganz simpel zu sagen: im Stuttgarter Faust montiert die Regie die kleinbürgerlichen Paris Klischees zusammen, lässt auf diese Weise eine Bildcollage entstehen und erzählt in dieser Collage eine sentimentale Geschichte von Herz und Schmerz, von Lust und Leid, von Verführung und Verführbarkeit und Oberflächlichkeit – und dazu wird in allen Rollen wunderschön gesungen und grandios gespielt.

Castorf erspart den Sängerinnen und Sängern alle Mätzchen, lässt sie die großen Szenen fast ausschließlich von der Rampe singen, lässt dem Zuhörer die Möglichkeit, wenn er denn mag, in Gounods Sentimentalitäten zu ‚ertrinken‘, zu ‚versinken‘, lässt den Zuschauern ihren Spaß an der Bildcollage und wer es halt ein bisschen gesellschaftskritisch haben will, dem wirft die Regie ein paar (kleine) Brocken zu.

Ein höchst unterhaltsamer Opernabend in Stuttgart. Ich glaube, wenn ich wieder Lust auf Kitsch und Sentimentalitäten bekomme, gehe ich noch einmal hin. Und das ist ja keine Schande. In Paris hat man Gounods Faust schon über zweitausend Mal gespielt. In der Bastille Oper steht er auf dem Programm.

Wir sahen die Stuttgarter Aufführung am 17. November 20165, die 5. Vorstellung. Die Premiere war am 30. Oktober 2016.

 

 

Belcanto nebst Griff in die Theaterkiste. Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenieren Bellini, I Puritani an der Oper Stuttgart

Bei Bellini und Donizetti – viele Male konnte ich dies schon konstatieren – braucht man eigentlich nur vier herausragende, höchst brillante Sänger, und alles andere ist letztlich unwichtig. Sagen wir es gleich: in Stuttgart stehen diese vier Belcanto Sänger  auf der Bühne und – sagen wir es ruhig pathetisch –  ‚verzaubern‘ ihr Publikum mit Bellinis unendlichen Melodienbögen: die Sopranistin Ana Durlovski als unglücklich liebende Elvira, der Tenor Edgardo Rocha als nicht minder unglücklicher Liebhaber Arturo, der Bariton Gezim Myshketa als verschmähter Rivale Riccardo und der Bass Adam Palka in der Rolle des Giorgio, des uneigennützigen Helfers des Liebespaars – im Libretto der Onkel der Protagonistin und im Regiebuch der Spielleiter: in Kostüm und Maske ein Selbstporträt von Jossi Wieler. Wie Giorgio gleich bei seinem ersten Auftritt seine Theaterkiste aufmacht, eine Marionette hervorholt und mit dieser Elvira vorspielt, wie er ihren noch zögernden Vater dazu überredet habe, seine Tochter dem schönen Lord Arturo und nicht dem gewalttätigen Puritaner Riccardo zur Frau zu geben, so hat auch Jossi Wieler seine  Theaterkiste geöffnet und das Bellini Fest der Stimmen zugleich zu einem Fest der Regie gemacht.

Alles (beinahe alles), was das Theater nur hergibt, wirft Wieler auf die Bühne: fanatische, schwarz gekleidete Fundamentalisten mit der Bibel (nein, nicht mit dem Koran) in der Hand,  eine ganz der ‚Liebe als Passion‘ hingegebene junge Frau, die zum Opfer politischer Intrigen und von Macho Gehabe wird und der nur die Flucht in Wahn und Traum bleibt, den schönen Liebhaber, der von Maske und Kostüm her einem Stück von Corneille entsprungen sein könnte und dementsprechend zwischen gloire/devoir und amour, zwischen ‚Pflicht und Neigung‘ schwankt und am Ende alles verliert, den von Rachsucht getriebenen Rivalen, für den der religiöse Fundamentalismus nur Vorwand für persönliche Rache ist, den gutmütigen jungen Mann, der doch nur das Beste für das Liebespaar will, ein Fra Lorenzo als Gutmensch von heute, und dem das Spiel entgleitet.… → weiterlesen

Rigoletto ein gescheiterter Revolutionär? Ein in Musik und Szene höchst gelungener Verdi an der Oper Stuttgart

Verdis so populäre Oper mit ihren Wunschkonzert Arien, mit ihren an die Emotionen appellierenden Melodienbögen, mit einer Handlung aus Mélodrame, Krimi und Familientragödie, diese Melange aus Liebe und Lust, Leid und Tod, all das kennt man, meint man zu kennen, bis hin zum Überdruss. Kann man diesem Stück wirklich noch eine Bedeutungsvariante abgewinnen?

In Stuttgart setzen Jossi Wieler und Sergio Morabito, die gemeinsam für Regie und Dramaturgie verantwortlich zeichnen, auf die politische Komponente des Libretto und schlagen eine lectura politica vor, die in der Tat das alte Stück aus seiner klischeehaften Erstarrung löst. Zeit und Ort der Handlung sind nicht mehr ein fiktives Mantova in der Epoche der Renaissance. Zeit und Ort sind eine unbestimmte Stadt im Italien des Risorgimento, eine Stadt, in der der an die Häuserwände gesprühte Name V.E.R.D.I. eine politische Parole ist: die Forderung nach einem vereinten Italien unter dem Piemontesen Vittorio Emanuele als König. In dieser Situation sind die kleinen Fürstentümer dem Untergang geweiht. Und da ist es nur konsequent, dass der Duca di Mantova  nicht an der Macht, sondern ausschließlich an ‚Wein, Weib und Gesang‘ interessiert ist und die Macht seinem Eventmanager, dem Buffone Rigoletto, überlässt. Dieser ist seinem Herrn gegenüber nur scheinbar loyal.  In seiner erbärmlichen ‚Hütte‘ bereitet er im Proletarierlook den ‚Krieg den Palästen‘ vor und lässt seine Tochter Gilda – auch sie im Proletenlook – schon mal Plakate mit den Parolen der französischen Revolution drucken. Die Entführung der Tochter, die sich der Möchtegernrevolutionär offensichtlich als Ikone für die geplante Revolution hält und deren unbedingte Leidenschaft für den verhassten Libertin lassen aus der erträumten Revolution nur eine Privatrache werden. – mit den bekannten Folgen. Mag   der Buffone bei der wilden Vendetta Arie  auch auf die Stühle steigen und in der Pose der Volkstribunen  drohend die Fäuste schwingen, er ist doch nur ein Buffone oder allenfalls die Parodie eines Revolutionärs.  Da kann in der Gewitternacht der Himmel noch so rot leuchten und die Feuerstürme der Revolution ankündigen, der ersehnte Umsturz endet – ganz wie es das Libretto will – in der persönlichen Katastrophe des Helden und – so will es die Regie –  in der Restauration der Macht der ‚herrschenden Klasse‘: das Schlussbild zeigt die im Kreis herumsitzenden Höflinge.

Rigoletto die Tragödie eines besitzergreifenden und rachsüchtigen Vaters, das Psychoprogramm des gescheiterten Vaters, wie es die konventionellen Deutungen zeigen? Nein, Rigoletto ist die Tragödie des an sich selber scheiternden Revolutionärs. Gibt das Stück wirklich diese Deutung her? In  der Stuttgarter Inszenierung wirkt sie glaubhaft. Hätte man nicht sogar noch einen Schritt weiter gehen können und aus Rigoletto einen Garibaldi Verschnitt machen können? Garibaldi, dessen Traum vom neuen Italien in der Restaurationsherrschaft der Piemontesen endet?

Diesen Weg wäre das Publikum wohl nicht mitgegangen, ein Publikum, das gegenüber der anspruchsvollen Inszenierung ziemlich ratlos bleibt und dafür umso begeisterter die grandios singenden und spielenden Solisten und einen nicht minder brillanten Chor feiert. Nennen wir nur die drei Protagonisten: mit welcher Italianità, mit welchem Schmelz  Atalla  Ayan den Duca singt, wie Markus  Marquardt den Rigoletto gestaltet und wie Ana Durlovski, die Koloraturdiva der Oper Stuttgart, die Gilda gibt, das ist schlichtweg große italienischen Oper, große Oper, aus der eine intelligente, eine literarisch und historisch gebildete Regie großes Musiktheater zu machen versteht.

Wir sahen die Aufführung am 25. Juli 2016, die 18.Vorstellung seit der Premiere am 28. Juni 2015.

 

Dadaisten Happening im Círculo de Bellas Artes. Christoph Marthaler inszeniert Les Contes d’Hoffmann an der Oper Stuttgart

Intelligent, beziehungsreich, witzig, von edler Langeweile angekränkelt – eben ein typischer Marthaler. So die gängigen Erwartungen.

Ganz so langweilig wie befürchtet wird es nun nicht. Es zieht sich allenfalls ein bisschen, und die Gags wiederholen sich. Ansonsten: großes Theater. Die Regie gibt sich intermedial und hat für Madrid-Freunde und für Anhänger der Surrealismus- und Dadaismus-Szene ein Rate- und Wiedererkennungsspiel ersonnen. Ein Who is Who, das ist der schwierige Teil, und ein Wo-sind- wir-denn, das ist der einfache Teil. Wer in Madrid über die Gran Via oder die Calle de Alcalá in Richtung des Museumsviertels spaziert, der findet gleich neben der spanischen Zentralbank einen Palacio, der sich kaum von den anderen Palacios der Umgebung abhebt und der doch eine Institution in Madrid ist: der Círculo de Bellas Artes. Ein Restaurant mit Terrasse zur Straße hin und im Inneren ein Museum, eine Kunstakademie, ein  Theater, Vortragssäle, Zeichensäle, Salons, ein Treffpunkt für Literaten und Künstler und solche, die sich dafür halten.

Anna Viebrock, die für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich zeichnet, greift  all diese Teilbereiche auf, vermengt sie miteinander und schafft ein Einheitsbühnenbild, einen idealisierten und konzentrierten Círculo de Bellas Artes. Hier wird getanzt und gefeiert, hier setzen sich die Künstler selber in Szene, hier posieren die Modelle für die Aktzeichner, hier wird geplaudert und getrunken, posiert und integriert, hier erzählt Hoffmann seine Geschichten.… → weiterlesen

„Ich will den Kopf des“ – Terroristen. Eine aktualisierte Salome an der Oper Stuttgart

Könnt Ihr, liebe Theatermacher, uns nicht endlich einmal mit dem ewigen Israel- Palästinenser Konflikt in Ruhe lassen, mit der in allen Medien stets präsenten Flüchtlingsthematik, mit den Gewaltexzessen des IS, mit dem breiten Leinwandgrinsen der Merkel, mit Mossad und Terroristen, mit den ewig gleichen Videoaufzeichnungen, mit all dem Aktualisierungswahn, mit dem Ihr hier im konkreten Fall der Salome die glitzernde, so schön dekadente Musik zum Soundtrack für Euer Kino auf der Opernbühne missbraucht.

Natürlich sind Dekadenz und (verlogene) Orientmode des 19. Jahrhunderts längst Schnee von gestern.  Natürlich haben wir vom Mythos der Femme fatale nebst all ihren Mythemen, Varianten und gesellschaftlichen Verortungen längst genug. Und da hilft, wie uns das Stuttgarter Regieteam um Kirill Serebrennikov weismachen will, als Gegenmittel, als Gegengift nur Politisierung, schärfste Aktualisierung und intermediales Spektakel?… → weiterlesen