Bei Bellini und Donizetti – viele Male konnte ich dies schon konstatieren – braucht man eigentlich nur vier herausragende, höchst brillante Sänger, und alles andere ist letztlich unwichtig. Sagen wir es gleich: in Stuttgart stehen diese vier Belcanto Sänger auf der Bühne und – sagen wir es ruhig pathetisch – ‚verzaubern‘ ihr Publikum mit Bellinis unendlichen Melodienbögen: die Sopranistin Ana Durlovski als unglücklich liebende Elvira, der Tenor Edgardo Rocha als nicht minder unglücklicher Liebhaber Arturo, der Bariton Gezim Myshketa als verschmähter Rivale Riccardo und der Bass Adam Palka in der Rolle des Giorgio, des uneigennützigen Helfers des Liebespaars – im Libretto der Onkel der Protagonistin und im Regiebuch der Spielleiter: in Kostüm und Maske ein Selbstporträt von Jossi Wieler. Wie Giorgio gleich bei seinem ersten Auftritt seine Theaterkiste aufmacht, eine Marionette hervorholt und mit dieser Elvira vorspielt, wie er ihren noch zögernden Vater dazu überredet habe, seine Tochter dem schönen Lord Arturo und nicht dem gewalttätigen Puritaner Riccardo zur Frau zu geben, so hat auch Jossi Wieler seine Theaterkiste geöffnet und das Bellini Fest der Stimmen zugleich zu einem Fest der Regie gemacht.
Alles (beinahe alles), was das Theater nur hergibt, wirft Wieler auf die Bühne: fanatische, schwarz gekleidete Fundamentalisten mit der Bibel (nein, nicht mit dem Koran) in der Hand, eine ganz der ‚Liebe als Passion‘ hingegebene junge Frau, die zum Opfer politischer Intrigen und von Macho Gehabe wird und der nur die Flucht in Wahn und Traum bleibt, den schönen Liebhaber, der von Maske und Kostüm her einem Stück von Corneille entsprungen sein könnte und dementsprechend zwischen gloire/devoir und amour, zwischen ‚Pflicht und Neigung‘ schwankt und am Ende alles verliert, den von Rachsucht getriebenen Rivalen, für den der religiöse Fundamentalismus nur Vorwand für persönliche Rache ist, den gutmütigen jungen Mann, der doch nur das Beste für das Liebespaar will, ein Fra Lorenzo als Gutmensch von heute, und dem das Spiel entgleitet.
Diese Personenkonstellation, diese Dreiecksgeschichte, diese Zitate aus dem klassischen und romantischen Theater verbindet die Regie mit dem Puppenspiel, dem Theater auf dem Theater, dem Traumdiskurs und dem Märchen, das zum Antimärchen wird. Vor einer kleinförmigen Theaterkulisse, vor einer Art Puppenhaus, erleben die Liebenden wenige Augenblicke des Glücks, des scheinbaren Glücks. Die Puppenhausszene ist nur ein Traum, ein Wahnbild, und aus Traum und Wahn findet die junge Frau nicht mehr heraus. Auch das Glück im Finale ist nur ein erträumtes Glück: Arturo und auch der scheinbar so tolerante und ‚aufgeklärte‘ Giorgio gehen zu den Fundamentalisten über. Elvira bleibt allein zurück.
Dem immanenten Spielleiter Giorgio, so sagten wir, entgleitet das Spiel. Nicht so dem ‚realen‘ Spielleiter Wieler. Wie dieser Materialien unterschiedlichster Art durcheinander wirbelt, wie er aus einem romantischen Mélodrame, in dem sich Liebe, Lust und Leidenschaft, Wahn und Trug und Traum und Fundamentalismus überlagern, wie er aus einem uns eher fern liegenden Stück ein Stück von heute zu machen versteht, ohne dabei in billigen Aktualismus zu verfallen, das ist bewundernswert.
I Puritani ein Belcanto Stück und zugleich eine Parabel über die zerstörerische Macht des religiösen Fundamentalismus, eines Fundamentalismus, der sich mit politischen Machtansprüchen verbindet – so einst im England des Lordprotektors und Puritaners Cromwell und nicht nur dort.
Wir sahen die Aufführung am 27. Juli 2016, die fünfte Vorstellung. Die Premiere war am 8. Juli 2016.