‚Trash, Trash! Überall Trash! Wohin ich forschend blick‘. Zum letzten Male der RTL-Ring für Smokingträger in Bayreuth

 

Da sitzt man nun am vierten Abend in der zweiten Reihe „am geweihten Ort“, und nach den ersten beiden  Aufzügen der Götterdämmerung denkt man nur noch. „Zu viel! Zu viel“. Ich kann  diesen RTL Schmarren, den uns der Herrscher der Berliner Volksbühne serviert, nicht länger ertragen. Ich werfe gleich faule Eier oder noch besser: faule Tomaten.

Da lässt der Siggi mit dem Kleingangster von der Dönerbude  die Bierdosen zischen, und ein finsterer Geselle schaut zu. Da schiebt das Flittchen Gutrune mit Siggi gleich eine Nummer an der Wand vom Wohnwagen. Da knallt unser Siggi, jetzt mit Ledermantel und dunkler Brille ausstaffiert, die arme Bruni so gewaltsam gegen den Wohnwagen, dass sie in den  beiden folgenden Akten nur auf Krücken gehen kann bzw. nur noch von der Seite aus singen kann und der hübsche Regieassistent Brünnhilde mimen muss. Da treten die Nornen als Mischung aus Voodoo Priesterinnen  und altjüngferlichen Pfarrhelferinnen auf.  Da kommt Waltraute als Tingeltangel Burgfräulein aus der Kindervorstellung von nebenan mal eben kurz herüber und will doch tatsächlich der vor ihrem Wohnwagen hockenden und gelangweilt in einer Illustrierten blätternden Bruni ein Wertstück abluchsen. Und all dies ereignet sich in einem Ostberliner Hinterhof, vielleicht auch – als Zugeständnis für die Wagnerianer aus Übersee – vor Bauruinen in der Bronx.

Ja, warum auch eigentlich nicht. Der Mythos lebt halt  – das hat sich nun wirklich herumgesprochen – von seinen Varianten. Man muss sich nur darauf einlassen. Und dann hat man auch seinen Spaß an all den Szenen aus der Welt des Subproletariats, den Verweisen auf amerikanische Gangsterfilme, auf sowjetische Heldensagen, auf das Revolutionsgerümpel von Marx bis Mao und von Lenin bis Stalin.… → weiterlesen

Faust und Marguerite am Montmartre: Métrostation Stalingrad. Frank Castorf inszeniert Gounod

Gounod ist das nicht ein bisschen zu süßlich? Ein bisschen zu kitschig? Ein bisschen zu populär? Mag sein. Doch die Serie der Opernschlager, für die Gounods Name steht, hört man immer wieder gern. Valentins Gebet, Fausts Arie „Salut demeure chaste et pure“, die Ballade vom König von Thule, Marguerites Juwelenarie, das berühmte Liebesduett in der Gartenszene usw.

Zum Stuttgarter Faust, das sag ich gleich, bin ich nicht wegen der Musik, sondern wegen der Inszenierung gegangen. Keine Frage. Theatermacher Castorf ist ein inzwischen etwas in die Jahre gekommenes Enfant terrible des ‚Regietheaters‘. Doch jetzt bei seinem Stuttgarter Faust hat er noch einmal seine große Theaterkiste aufgemacht und mit seinen Versatzstücken und den üblichen Brecht Klischees eine höchst theaterwirksame Faust Erzählung in Szene gesetzt.

Spielort ist Paris. Paris und die Klischees von der Kleinbürgerwelt und der dieser entsprechenden Vergnügungswelt des Montmartre. Faust und Mephisto sind nichts anderes als zwei vergnügungs- und sexsüchtige junge Männer. Marguerite ist zwar keine Schwester von Irma la Douce, sondern eher eine junge Frau, die gern ausgeht, in den Bistros dem Wein zuspricht, lesbischen Beziehungen nicht abgeneigt ist (nicht von ungefähr ist die Rolle des Siebel mit einer jungen Frau besetzt), die schon mal als ‚femme entretenue‘ arbeitet oder auch schon mal in einer Fabrik oder in einer Bar ihr Geld verdient. Eine fromme Lösung, wie sie Musik und Libretto wollen, hat die Regie nicht vorgesehen. Im Finale sitzt Marguerite nicht im Kerker, sondern hockt mit ihren Freundinnen Marthe und Siebel in einer Kleinwohnung. Als Faust sich davon macht, greift sie nach der Flasche mit dem Gift, die der greise Faust im Bistro liegen gelassen hatte. Ob sie sich mit dem Gift umbringt? Der Schluss bleibt offen.

Castorf wäre nicht Castorf, wenn seine Inszenierung nicht den berüchtigten gesellschaftskritischen Touch bekäme. Gespielte Zeit ist die Zeit des Algerienkriegs, die Fünfzigerjahre. Valentin ist ein Troupier, der aus Algerien zurückkehrt und an die Wände der Métrostation die politische Parole „Algérie francaise“ pinselt. Zum heroischen Militärmarsch blendet das Video Szenen aus einem Kriegsfilm ein: Flucht und Tod eines Soldaten. Das Spiel mit den Videos, das inzwischen in vielen Inszenierungen geradezu obligatorisch geworden ist, nutzt Castorf auf seine Weise. Seine Videos präsentieren das Kontrastprogramm zum Geschehen auf der Bühne, fungieren gleichsam als ironische und sarkastische Replik  auf das Geschehen. Wenn Faust und Marguerite in der Gartenszene, die bei Castorf konsequenterweise im Bistro spielt, ihr berühmtes Liebesduett singen, zeigt das Video Ausschnitte aus Doris Day Filmen und Sequenzen aus der Waschmittelwerbung. Wenn Marguerite sich im Finale noch einmal ihrer großen Liebe erinnert, zeigt das Video Ausschnitte aus einer Liaisons dangereuses Verfilmung usw.

Um es ganz simpel zu sagen: im Stuttgarter Faust montiert die Regie die kleinbürgerlichen Paris Klischees zusammen, lässt auf diese Weise eine Bildcollage entstehen und erzählt in dieser Collage eine sentimentale Geschichte von Herz und Schmerz, von Lust und Leid, von Verführung und Verführbarkeit und Oberflächlichkeit – und dazu wird in allen Rollen wunderschön gesungen und grandios gespielt.

Castorf erspart den Sängerinnen und Sängern alle Mätzchen, lässt sie die großen Szenen fast ausschließlich von der Rampe singen, lässt dem Zuhörer die Möglichkeit, wenn er denn mag, in Gounods Sentimentalitäten zu ‚ertrinken‘, zu ‚versinken‘, lässt den Zuschauern ihren Spaß an der Bildcollage und wer es halt ein bisschen gesellschaftskritisch haben will, dem wirft die Regie ein paar (kleine) Brocken zu.

Ein höchst unterhaltsamer Opernabend in Stuttgart. Ich glaube, wenn ich wieder Lust auf Kitsch und Sentimentalitäten bekomme, gehe ich noch einmal hin. Und das ist ja keine Schande. In Paris hat man Gounods Faust schon über zweitausend Mal gespielt. In der Bastille Oper steht er auf dem Programm.

Wir sahen die Stuttgarter Aufführung am 17. November 20165, die 5. Vorstellung. Die Premiere war am 30. Oktober 2016.