“Dalla sua pace dipende la mia […]”. Ottavio erschießt Gianni, und Anna entschwindet ihm. Don Giovanni an der Oper Graz
In Graz ist ein ungewöhnlicher Don Giovanni zu sehen, ein Don Giovanni, der das Da Ponte Libretto nur noch als Materialsammlung nimmt, Szenen umstellt, die Konfiguration verschiebt, die Gewichtung der Personen – und natürlich Raum und Zeit verändert. Eine Konzeption, die irritiert und verblüfft und die doch letztlich den Don Juan Mythos nur klein redet, wenn sie alles Rebellentum, allen metaphysischen Bezug und noch dazu alle Erotik streicht und damit auf drei eigentlich essentielle Komponenten des Mythos verzichtet. Spielort ist, wenn ich das richtig verstanden habe, der Gemeinschaftsraum eines Gefängnisses (nein: die Billigsymbolik: Gefangensein im Kerker der Leidenschaften, das ist nicht gemeint). Das Gefängnis als Spielort, das versteht sich wohl als leicht versteckter Hinweis auf das Hospiz von Charenton, in dem der Marquis de Sade mit seinen Mitgefangenen die Ermordung Marats nachspielt. War es vielleicht das? Doch Sadismus, Gewalt und Grausamkeit liegen dem Grazer Regieteam fern. Irre sind die Akteure auch nicht. Kindsmörderinnen und Banker wohl auch nicht. Warum sie im Gefängnis sitzen? Wer weiß das schon, wer will das schon wissen? Ist halt so. Alle Häftlinge haben gerade an einer großen Tafel zu Abend gegessen und als Begleitmusik wohl den Don Giovanni gehört. Das Finale der Wiener Fassung dröhnt gerade noch aus den Lautsprechern – und da bekommen wohl die Damen und Herren Häftlinge Lust, das Stück, das sie da so eben gehört haben, nachzuspielen und nachzustellen. Und bei dieser Gelegenheit können sie alle ihre Komplexe und Traumata ausspielen: eine gewisse Anna im Nachthemd, die so gern einen potenten Liebhaber hätte, eine Dame aus Burgos, die ihrer Sehnsucht nach der großen Welt hinterher läuft, ein schüchterner Gianni, der so gern den großen Verführer machen will und nie zum Ziele gelangt, eine frustrierte kleine Zerlina, der ein armer Tölpel namens Masetto weder Lust noch große Welt bieten kann, ein eifersüchtiger Ottavio, der im Finale aus der ihm zugedachten Rolle ausbricht, den vermeintlichen Liebhaber seiner Freundin Anna mit einem Schuss aus dem Revolver einfach umlegt, den armen Gianni, der sich gerade noch eine Schimpftirade des Gefängnisdirektors (bei Da Ponte die Statue eines gewissen Komturs) anhören musste. Ja, und unseren kleinen Ottavio, der endlich einmal den Macho herauskehren wollte, den verlassen jetzt all seine Freunde und Freundinnen, und er sitzt ganz allein an der großen Tafel im Gefängnis und darf uns zum Finale des Stücks „Dalla sua pace […]“ vorsingen. Das macht er auch schön und rührend, und auch alle anderen Mitspieler sangen so, wie man es an einem mittelgroßen Haus in der fernen Steiermark erwarten kann. Ein etwas eigenartiges ‚Regietheater’ – in gleicher Weise weit entfernt vom modischen Trash und vom spießigen Historisieren – ist in Graz zu sehen. Eine Variante des Don Juan Mythos, die zum Banalisieren neigt doch unterhaltsam alle Male ist. Der Mythos lebt halt in seinen Varianten, und Da Ponte übertreffen, das wollen eben viele Theatermacher. Wir sahen die Aufführung am 21. Jänner, die laut Besetzungszettel 11. Vorstellung nach der Premiere am 6. November 2010.