Die Mär von der „Heiligen im Hurenkalender“ und in Almodóvars mediterraner Puppenstube: La Traviata und Il Barbiere di Siviglia an der Opéra National de Paris

Die Opéra Bastille bot  am vergangenen Wochenende ein Kontrastprogramm in vielerlei Hinsicht: La Traviata im Stile der Grand Opéra in reicher Ausstattung, in teuren Kostümen aus dem Zweiten Kaiserreich, historisierend, ohne eine Spur von Problembewusstsein, ohne den geringsten Versuch, zum Mythos der Kameliendame eine Variante anbieten zu wollen. Kein erotisches Glitzern – es  sei denn, man nehme das funktionslose prachtvolle Empire Bett, das im ersten Bild die Szene beherrscht, für ein erotisches Signal –  kein noch so schwacher Hauch von Verruchtheit, noch nicht einmal Sentimentalität oder gar Rührung.  Von Alexandre Dumas‘ Kameliendame  mit ihrer Lebensgier, ihrer morbiden Verbindung von femme fatale und femme fragile, von ihrer geheimen Sehnsucht nach der bürgerlichen Familie hat diese Pariser La Traviata nichts mehr. Violetta(im Outfit der Marguerite) darf immerhin in weißer Staatsrobe im ersten, in pastellfarbiger Robe im zweiten, in schwarzer Robe im dritten und im langen weißen Nachthemd im vierten Bild von der Rampe singen – und das macht sie sehr gut.  Und alle anderen Mitwirkenden tun es ihr gleich.  Kalt und perfekt, routiniert und emotionslos. Sie haben es halt schon hunderte Male in aller Welt gesungen. Da kann man nicht mehr erwarten.  Ein Glück, dass niemand  aus dem Publikum mitgesungen hat. Dieser süßliche, populäre Verdi-Kitsch lädt ja geradezu zum Mitsingen ein: „Parigi, o cara/caro, noi lasceremo“.

Allgemeine Begeisterung im Haus. Ich fand das alles nur öd und langweilig und versuchte mich an Konwitschnys so brillante La Traviata – Interpretation  zu erinnern. La Traviata als die Weise von Tod und Liebe für Voyeure, eine Deutung, die  die ‚Spaßgesellschaft‘ auf der Bühne und im Publikum, die sich am Leiden und an den Sehnsüchten der Kameliendame weidet, als sensationslüsterne Voyeure entlarvt.  Voyeure, die nach der Zärtlichkeit der liebes- und lebenssüchtigen Kameliendame gieren und sich am Sterben ihres Objekts der Begierde berauschen. Von all dem weiß das Regieteam in Paris nichts oder will davon nichts wissen. Es wollte wohl nur Opas Staatstheater mit Starsängern präsentieren. Und das ist ihm zweifellos gelungen.

Am Abend darauf, beim Barbier von Sevilla, war das Gegenteil zu besichtigen und zu hören. Ein Ensemble, in dem die Hauptrollen nicht unbedingt optimal besetzt waren. Doch zum Ausgleich dafür eine witzige und temperamentvolle Regie und eine Ausstattung, die mit der Regie offensichtlich um den ersten Preis wetteiferte.

Schauplatz des Geschehens ist ein ‚barrio popular‘, ein populäres  Viertel in irgendeiner mediterranen, vielleicht spanischen Stadt von heute: eine Straße mit leicht verfallenen Mietshäusern und der obligatorischen einfachen Bar. Im mittleren Haus, im Erdgeschoss und in der ersten Etage, wohnt der Doktor Bartolo. Und wenn sich dank der Drehbühne die Rückseite des Hauses öffnet, dann zeigen sich wie in einer Puppenstube eine Vielzahl von kleinen Wohnungen und Zimmern: die Karikatur einer kleinbürgerliche Idylle mit Küchen, Schlafzimmern, Salons. Und in diesen Puppenstuben treiben es zum Gaudi des Publikums die Leute halt so, wie es die Klischees wollen. Rosina, die Karikatur eines etwas in die Jahre gekommenen Punks, haust noch in ihrem Kinderzimmer, der Doktor Bartolo hat gleich daneben sein Bibliothekszimmer, in dem er sein Geld zählt. Im ersten Stock da gibt es den Salon und die Küche und den Balkon, den Bartolo gleich zumauern lässt, damit Rosina nicht vom Balkon auf das Auto herunterklettern kann, auf dem Almaviva, die Karikatur eines schwarzbärtigen Jungmannes,  seine Serenade singt,  nein nicht singt, sondern als Parodie eines Ständchens herunter knödelt. Figaro mit schwarzem langem Haar und im roten Anzug erfüllt ganz das Klischee eines Gitano, eines Zigeuners, aus Andalusien. Bartolo ist der reiche, sich ach so intelligent dünkende  gut situierte ‚Jubilado‘, der Rentner aus dem Mittelstand.

Damiano Michieletto,  Paolo Fantini und Silvia Aymonino, die für Regie bzw. Bühnenbild bzw. Kostüme verantwortlich zeichnen, zitieren und ironisieren, parodieren und karikieren eine Fülle  mediterraner Klischees, transferieren die Commedia dell’arte Figuren, mit denen das Libretto spielt, geistreich und witzig in unsere Gegenwart. So jagt  denn  ein Gag den anderen, dreht sich die Komödie – ganz wie es sich für eine Buffa gehört – immer schneller, wird immer atemloser. Und im Finale da tritt der Conte d‘Almaviva eben nicht, wie man das von den gängigen Inszenierungen her kennt, als eleganter Hochadliger auf, sondern bleibt das bärtige Männchen, das zur Identifikation seinen Personalausweis vorweist und mit dem ältlichen Punk auf dem schweren Motorrad davon braust.

So mancher im Publikum mag sich vielleicht gefragt haben, was dieses Männchen wohl mit dieser Jungfer  anfangen will.  Ganz einfach: dieses so scheinbar unpassende Liebespaar ist eine Parodie der Verliebten in der Commedia dell’arte, ist die Konsequenz der auf  Parodie setzenden Grundkonzeption der Inszenierung.

Pointiert gesagt: La Traviata ein Sängerfest, wie man es von einem großen Haus erwartet. Il Barbiere di Siviglia ein Fest der Regie und der Ausstattung, wie man es von einem traditionellen Haus nicht erwartet. Was wir in der Bastille sahen, war ja auch keine Produktion  der Opéra National de Paris, sondern eine Übernahme vom Grand Théâtre de Genève, eine Produktion, die Michieletto und sein Team dort im Jahre 2010 herausgebracht hatten.

Wir sahen La Traviata am 3. Oktober 2014 (die siebzehnte Aufführung in dieser Inszenierung)  und Il Barbiere di Siviglia am 4. Oktober 2014 (die siebte Aufführung in dieser Inszenierung).

Die Weise von Liebe und Tod der ‚Femme fragile‘ – im Vorraum der Toiletten. La Traviata an der Oper Köln

Die Weise von Liebe und Tod der ‚Femme fragile‘ – im Vorraum der Toiletten. La Traviata an der Oper Köln

Ich bin nicht unbedingt ein Verdi Fan. Dieser Hang zur Gefühlsseligkeit, die so leicht dem Kitsch nahe kommt, dieses raffinierte Spiel mit den Emotionen der Zuhörer, mit einem Wort: diese so viele Male bis hin zum Überdruss gehörte Musik, deren Wirkung man sich nur schwer entziehen kann, all dies ist nicht so ganz mein Fall. Und trotz so mancher Vorurteile hat mich die Kölner La Traviata berührt, um nicht zu sagen gerührt.

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Die Weise von Tod und Liebe – für Voyeure. Konwitschny inszeniert La Traviata an der Oper Graz

Die Weise von Tod und Liebe – für Voyeure. Konwitschny inszeniert La Traviata an der Oper Graz

Sie alle begaffen es lustvoll. Sie alle: die Spaßgesellschaft auf der Szene, das Publikum im Saale, unter das sich die Akteure mischen, sie alle beschauen es, genießen es, berauschen sich am Dahinsiechen, am Sterben des Objekts der Begierde, gieren nach den Zärtlichkeiten der liebes- und lebenssüchtigen Kameliendame, der „Heiligen im Hurenkalender“ der Bürger und Spießer. Konwitschny erzählt in Graz eine neue Variante des Mythos von der Kameliendame, begreift das Sterben und das vergebliche Lieben der Marguerite/Violetta als Event für eine ausgelassene Partygesellschaft, die sich den vertrottelten Literaten Armand/Alfredo als neues Spielzeug für die Todkranke ausgesucht hat und die bass erstaunt ist, dass dieser kleine Literat, der da in der Woody Allen Maske herkommt, mit seinen Schulbuchweisheiten über die Macht der Liebe, die er aus seinen Schmökern vorliest, die Kurtisane für sich zu gewinnen weiß und sie die romantische Liebe als Passion entdecken lässt. Doch wie schon in Alexandre Dumas’ so berühmten Roman  bleibt auch für Konwitschny Armand/Alfredo nur eine letztlich unbedeutende Randfigur, die gar nicht begreift, was ihr geschieht, der allein die Funktion zukommt, den latenten Hang zur Liebe als Passion und damit zur bürgerlichen Zweisamkeit, der die Kameliendame bestimmt, dieser bewusst gemacht zu haben. Doch für Außenseiter, im konkreten Fall für Objekte der Begierde, mögen sie sich auch bekehren, mögen sie auch die Normen der bürgerlichen Gesellschaft anerkennen, gibt es dort keinen Platz. Sie bleiben, mögen sie lieben, mögen sie sterben, immer nur Schauobjekte, Gegenstände des Vergnügens. Mit dieser starken Betonung des Voyeuristischen gibt die Regie dem Mythos einen neuen Dreh, fügt eine Variante hinzu, die, wenn ich mich recht erinnere, bei Alexandre Dumas nicht oder allenfalls am Rande thematisiert wird und die  dem Mythos etwas Theatralisches gibt und die die Akteure und mit ihnen die Rezipienten in ihrer Sensationslust als verachtenswerte Subjekte entlarvt. Sind es bei Dumas die Bürger mit ihrer besitzgierigen Familienideologie, die die Kameliendame vernichten, so sind es bei Konwitschny die sensationslüsternen Voyeure, die sich am Unglück der anderen weiden (warum sagen wir nicht: aufgeilen?), die die Kameliendame erledigen und zugleich zum Objekt ihrer geheimen Sehnsüchte machen. „Welches Grab ist das meistgeschmückte auf dem Friedhof Montmartre in Paris?“ – fragt der französisches Germanist Robert Minder und gibt gleich die Antwort: „An der Spitze rangiert das Grab der Kameliendame, jener Philine mit Schwindsucht. Unbekannte bringen ihr täglich Blumen […]Was suchen sie hier, was haben sie hier gefunden? Sich selbst mit ihren Träumen […].“ Wenn ein Theatermann wie Konwitschny den Mythos der Kameliendame  in Szene setzt, dann braucht es nicht der aufwendigen Dekorationen und der Vielzahl der Requisiten, auf die die mittleren Theatermacher nicht verzichten können. Seelentheater, nicht Dekorationstheater ist Konwitschnys Programm. Einziges Requisit ist ein Stuhl, auf den sich Violetta zu Beginn setzt, um ihre Schwäche zu kaschieren, ein Stuhl, auf dem sie im Finale in Verzweiflung hockt, um zu sterben. Die Rückkehr des Geliebten ist nur ein Theatercoup, ein Hirngespinst, ein Fieberwahn der Sterbenden. Als Kulissen genügen einige wenige Vorhänge. Vorhänge, in denen sich die Akteure verstecken können, aus denen sie auftreten können. Vorhänge, die im Finale des dritten Bildes auf die Festgesellschaft herabfallen, diese geradezu zu erschlagen scheinen. Vorhänge, die sich im Finale  zu einem schwarzen Nichts auftun, einem Nichts, in dem die Kameliendame sterbend entschwindet. Eine so durchdachte, eine so feinsinnige Inszenierung, wie sie in Graz zu sehen ist, kann nur gelingen, wenn eine herausragende, eine ungewöhnliche Sängerin und Schauspielerin die Traviata gestaltet. Und mit  Marlis Petersen steht – um es im alten Opernjargon zu sagen – eine  Primadonna assoluta  auf der Bühne, die mit brillanter Stimme  und leidenschaftlichem Spiel die von Konwitschny so geliebten „revolutionären Frauen“  glaubhaft darzustellen vermag, eine Außenseiterfigur, die allen übrigen Akteuren in Spiel und Gesang weit überlegen ist. Ich bin eigentlich kein Verdi Fan, und bei den so eingängigen, so populären, so stimmungsvollen Melodien, die da in La Traviata erklingen, fürchte ich manchmal im Kitsch zu ertrinken. Doch wenn Konwitschny inszeniert, die Petersen singt und spielt, dann wird aus der so viel gehörten La Traviata  ein großer Opernabend. Die La Traviata in Graz ist eine Reise wert. Wir sahen die Premiere  am 22. Jänner 2011.