Die Weise von Tod und Liebe – für Voyeure. Konwitschny inszeniert La Traviata an der Oper Graz

Die Weise von Tod und Liebe – für Voyeure. Konwitschny inszeniert La Traviata an der Oper Graz

Sie alle begaffen es lustvoll. Sie alle: die Spaßgesellschaft auf der Szene, das Publikum im Saale, unter das sich die Akteure mischen, sie alle beschauen es, genießen es, berauschen sich am Dahinsiechen, am Sterben des Objekts der Begierde, gieren nach den Zärtlichkeiten der liebes- und lebenssüchtigen Kameliendame, der „Heiligen im Hurenkalender“ der Bürger und Spießer. Konwitschny erzählt in Graz eine neue Variante des Mythos von der Kameliendame, begreift das Sterben und das vergebliche Lieben der Marguerite/Violetta als Event für eine ausgelassene Partygesellschaft, die sich den vertrottelten Literaten Armand/Alfredo als neues Spielzeug für die Todkranke ausgesucht hat und die bass erstaunt ist, dass dieser kleine Literat, der da in der Woody Allen Maske herkommt, mit seinen Schulbuchweisheiten über die Macht der Liebe, die er aus seinen Schmökern vorliest, die Kurtisane für sich zu gewinnen weiß und sie die romantische Liebe als Passion entdecken lässt. Doch wie schon in Alexandre Dumas’ so berühmten Roman  bleibt auch für Konwitschny Armand/Alfredo nur eine letztlich unbedeutende Randfigur, die gar nicht begreift, was ihr geschieht, der allein die Funktion zukommt, den latenten Hang zur Liebe als Passion und damit zur bürgerlichen Zweisamkeit, der die Kameliendame bestimmt, dieser bewusst gemacht zu haben. Doch für Außenseiter, im konkreten Fall für Objekte der Begierde, mögen sie sich auch bekehren, mögen sie auch die Normen der bürgerlichen Gesellschaft anerkennen, gibt es dort keinen Platz. Sie bleiben, mögen sie lieben, mögen sie sterben, immer nur Schauobjekte, Gegenstände des Vergnügens. Mit dieser starken Betonung des Voyeuristischen gibt die Regie dem Mythos einen neuen Dreh, fügt eine Variante hinzu, die, wenn ich mich recht erinnere, bei Alexandre Dumas nicht oder allenfalls am Rande thematisiert wird und die  dem Mythos etwas Theatralisches gibt und die die Akteure und mit ihnen die Rezipienten in ihrer Sensationslust als verachtenswerte Subjekte entlarvt. Sind es bei Dumas die Bürger mit ihrer besitzgierigen Familienideologie, die die Kameliendame vernichten, so sind es bei Konwitschny die sensationslüsternen Voyeure, die sich am Unglück der anderen weiden (warum sagen wir nicht: aufgeilen?), die die Kameliendame erledigen und zugleich zum Objekt ihrer geheimen Sehnsüchte machen. „Welches Grab ist das meistgeschmückte auf dem Friedhof Montmartre in Paris?“ – fragt der französisches Germanist Robert Minder und gibt gleich die Antwort: „An der Spitze rangiert das Grab der Kameliendame, jener Philine mit Schwindsucht. Unbekannte bringen ihr täglich Blumen […]Was suchen sie hier, was haben sie hier gefunden? Sich selbst mit ihren Träumen […].“ Wenn ein Theatermann wie Konwitschny den Mythos der Kameliendame  in Szene setzt, dann braucht es nicht der aufwendigen Dekorationen und der Vielzahl der Requisiten, auf die die mittleren Theatermacher nicht verzichten können. Seelentheater, nicht Dekorationstheater ist Konwitschnys Programm. Einziges Requisit ist ein Stuhl, auf den sich Violetta zu Beginn setzt, um ihre Schwäche zu kaschieren, ein Stuhl, auf dem sie im Finale in Verzweiflung hockt, um zu sterben. Die Rückkehr des Geliebten ist nur ein Theatercoup, ein Hirngespinst, ein Fieberwahn der Sterbenden. Als Kulissen genügen einige wenige Vorhänge. Vorhänge, in denen sich die Akteure verstecken können, aus denen sie auftreten können. Vorhänge, die im Finale des dritten Bildes auf die Festgesellschaft herabfallen, diese geradezu zu erschlagen scheinen. Vorhänge, die sich im Finale  zu einem schwarzen Nichts auftun, einem Nichts, in dem die Kameliendame sterbend entschwindet. Eine so durchdachte, eine so feinsinnige Inszenierung, wie sie in Graz zu sehen ist, kann nur gelingen, wenn eine herausragende, eine ungewöhnliche Sängerin und Schauspielerin die Traviata gestaltet. Und mit  Marlis Petersen steht – um es im alten Opernjargon zu sagen – eine  Primadonna assoluta  auf der Bühne, die mit brillanter Stimme  und leidenschaftlichem Spiel die von Konwitschny so geliebten „revolutionären Frauen“  glaubhaft darzustellen vermag, eine Außenseiterfigur, die allen übrigen Akteuren in Spiel und Gesang weit überlegen ist. Ich bin eigentlich kein Verdi Fan, und bei den so eingängigen, so populären, so stimmungsvollen Melodien, die da in La Traviata erklingen, fürchte ich manchmal im Kitsch zu ertrinken. Doch wenn Konwitschny inszeniert, die Petersen singt und spielt, dann wird aus der so viel gehörten La Traviata  ein großer Opernabend. Die La Traviata in Graz ist eine Reise wert. Wir sahen die Premiere  am 22. Jänner 2011.