Unter Schlampen und Sexisten im Kolonialreich des Duce. Così fan tutte als sexistisch-rassistische Militärklamotte und billig-banale Sexkomödie beim Festival d’Aix-en-Provence

Mozart mit seiner Musik, ob nun wie kürzlich in Berlin mit der Entführung und jetzt in Aix-en-Provence mit der Così fan tutte, stört beträchtlich die Regiekonzeption so mancher Theatermacher. So tun sie denn alles, um das Publikum von der Musik abzulenken, suchen aus Zuhörern Voyeure zu machen, erfinden die Libretti neu, bauen sich aus Sex- und Trash-Materialien eine neue Geschichte, ein Geschichte, die sich noch dazu gern im kruden Realismus suhlt.

Ja, warum eigentlich nicht. Warum muss die Così fan tutte Geschichte unbedingt im Neapel des Settecento in den besseren Kreisen spielen? Warum soll sie nicht in einem Militärstützpunkt des Duce in den dreißiger Jahren in Abessinien spielen. Warum sollen die „Turchi, Polacchi“, in die sich die Damen verknallen, nicht Tuaregs oder Abessinier sein. Warum sollen die Damen nicht drei Flittchen sein, die den Alltag der Militärs im Wüstenfort aufmischen. Warum soll in diesem Ambiente der „vecchio filosofo“ Don Alfonso  nicht zu einem versoffenen Kolonialbeamten, der sich sadistische Spielchen ausdenkt, mutieren. Ja, warum sollen wir aus den Nebenpersonen nicht Eingeborene machen, die zu allen Diensten zur Verfügung stehen  oder dazu gezwungen werden.

Ja, warum eigentlich nicht. Dass das Ganze dann nichts mehr mit  Da Ponte zu tun hat, mit seinem Maskenspiel, seinem Spiel mit literarischen Versatzstücken, die gleichsam mit einem Augenzwinkern hin zum Publikum ironisch-spöttisch fragmentarisch zitiert werden, mit seiner ironischen Replik  auf modische Philosopheme der Zeit wie auf die Vorstellung von der Manipulierbarkeit des Menschen als ‚homme machine‘  oder auf den Traum der Aufklärer, durch Erkenntnis und Desillusionierung aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ befreien zu können.… → weiterlesen

Frankensteins nymphomanische Töchter. Katie Mitchell inszeniert Alcina beim Festival d’Aix-en-Provence

Circe/Alcina ist eine Künstlerin der Verwandlungen. In Aix greift die Regie eine weitere Variante des Mythos auf. Alcina verwandelt nicht nur Menschen in Tiere und Pflanzen. Sie weiß – und über diese Gabe verfügt auch ihre Schwester Morgana – auch sich selbst zu verwandeln. Alcina und Morgana sind keine Märchenfiguren aus ferner, unbestimmter Vergangenheit. Sie sind – so aktualisiert die Regie den Mythos – alte Frauen, die, gehen sie durch eine Zwischentür aus ihrem Kabinett in den Salon, sich in attraktive junge Frauen verwandeln. Oder sind sie vielleicht junge Frauen, die sich in alte Frauen verwandeln können? Die beiden Damen  sind nicht nur Verwandlungskünstlerinnen, sie sind zugleich Nymphomaninnen, die ihre Opfer verführen, fesseln, betäuben, sie im Labor durch eine Röhre schieben  und sie als Tiere oder Pflanzen wieder herauskommen lassen.  Drastische Szenen, die  bei all ihrem ‚Realismus‘ nicht der Komik entbehren. Zu ihrer scheinbar so spontanen Liebeserklärung an Bradamante lässt sich Morgana ans Bett fesseln, und der arme Ruggiero, den die Helferinnen der Alcina in Schach halten, sieht mit offenem Mund zu, wie seine Bradamante für die Operation aufs Bett geschnallt wird. Der Verwandlungstortur entgehen beide nur dank der Intervention des draufgängerischen Militärs Melisso, der die Maschine noch gerade abstellen und Ruggiero von den Fesseln befreien kann.

Doch die Regie, wenngleich sie diese Szenen und ebenso die, in denen Ruggiero mit tatkräftiger Hilfe der amazonenhaften Bradamante die Macht der beiden Hexen bricht, breit und realistisch ausspielen lässt, will nicht primär eine Krimistory um zwei mörderische, nymphomanische alte Hexen erzählen. Zwar will sie  auf ein paar James Bond Einlagen oder besser gesagt: auf Parodien von James Bond Einlagen nicht verzichten. Doch ihr geht es um etwas ganz anderes, wenn man so will, um  etwas Ernsthafteres. Sie will mit der Figur der Alcina eine Variante von der ‚Liebe als Passion‘, von der selbstzerstörerischen Passion, erzählen. Und damit macht sie – ganz wie es dem Libretto und der Musik entspricht – aus Alcina eine Variante von Tassos Armida in den Kostümen von heute. Armida/Alcina, die verzweifelte Liebende, die zwischen Leidenschaft und Rachsucht hin und her Gerissene, die mit der Flucht des Ruggiero ihre Liebe und zugleich ihre Macht verliert.

Eine Akzentsetzung, die Armida/Alcina in der Person der grandiosen Sängerin und Schauspielerin  Patricia Petibon allen Raum zur Entfaltung gibt. Wie diese die großen Arien, die die ganze Skala der Affekte umfassen, singt und gestaltet, mit welcher Innigkeit sie die Melancholie Arie „Sì, son quella! Non più bella […]“ singt  oder wie sie am Ende mit „Mi restano le lagrime“ geradezu zusammenbricht, das ist schon beeindruckend und bewundernswert. Mögen, um nur noch zwei berühmte Namen zu nennen, mit Philippe Jaroussky als Ruggiero und Anna Prohaska als Morgana auch die Rollen des Primo Uomo und der Seconda Donna exzellent besetzt sein, in dieser Aufführung ist Patricia Petibon als Primadonna der große und zu Recht gefeierte Star.

Nur eines habe ich an diesem in Musik und Szene so großen Händel-Abend bedauert: dass die Aufführung im modernen Saal des Grand Théâtre de Provence und nicht im Innenhof des ehemaligen bischöflichen Palais stattfand. Die spätabendlichen Aufführungen unter südlichem Himmel machen doch gerade den besonderen Reiz des Festival d’Aix-en-Provence aus.

Wir sahen die Vorstellung am 10. Juli, die dritte Aufführung in dieser Inszenierung.

 

 

 

„Alle Mythen zerrinnen“. Konstanze bei den Islamisten in der Wüste – ohne happy end. In Aix-en-Provence inszeniert Martin Kusej Die Entführung aus dem Serail provokativ gegen den Strich

All das Gerede von Aufklärung, Toleranz, Gutmenschentum, all das sind Mythen, die nichts mit der Welt von Heute zu tun haben, Mythen, die zerronnen sind. Was zählt, das sind Dummheit, Fanatismus, Gewalt, Rachsucht, Sadismus, Mord. Mag dieser Lawrence von Arabien Verschnitt (im Libretto ein gewisser Selim Bassa) seinen Sadismus auch in Masochismus verwandeln und die vier „Verräter“, die vier „Ungläubigen“ im letzten Moment vor dem schon angetretenen Exekutionstrupp  retten, sein Unterführer (im Libretto ein gewisser Osmin) ermordet sie trotzdem. Und präsentiert zu den Schlussakkorden seinem Kommandanten, nein nicht die abgeschlagenen Köpfe, diese Szene hat man aus aktuellem Anlass gestrichen, sondern die blutigen Kleider der „Ungläubigen“.

In Aix zertrümmert die Regie das Libretto, aktualisiert es, verlegt es in die arabische Wüste, macht die Paare zu Geiseln einer islamischen Soldateska und ihres zum Islam konvertierten europäischen Anführer. In dieser Welt haben die Geiseln keine Überlebenschance. Sie werden bei der Flucht in die Wüste wieder eingefangen und  …

Aus der naiven und verlogenen Orientmode und aus den Aufklärungsträumereien, wie sie uns Libretto, Musik und so viele Inszenierungen vorgaukeln wollen, ist hartes, grausames, aktuelles Dokumentationstheater geworden, ein Theater, das uns inzwischen vertraute Bilder aus der islamischen Propagandamaschine nachstellt. In dieser Welt sind die rührenden Liebesseufzer eines Belmonte nur ironische Zitate aus einem längst vergangenen, ‚dekadenten Europa’, ist die Traurigkeitsarie der Konstanze nur Begleitmusik für die sich am eben geschlachteten Hammel gut tuende Soldateska, die die Arme wohl gleich auch noch vergewaltigen wird. In dieser Welt ist Pedrillos Romanze nur die Wahnszene eines vor Durst- und Angst Zusammenbrechenden, ist Osmins Rachearie keine Parodie, sondern brutale Wirklichkeit.

Ja, bei dieser in sich so konsequenten und packenden Inszenierung bleibt Mozart auf der Strecke, wird seine Musik genauso ad Absurdum geführt wie alle Aufklärungsideologie. Eine der typischen Kusej-Inszenierungen, die es darauf anlegen, die dunklen, die verborgenen, die Nachtseiten der Stücke ins grelle Licht zu rücken.

Keine Frage, dass die Gesangssolisten, allen voran Jane Archibald als Konstanze und Daniel Behle als Belmonte  das wenige Sublime, das bei dieser Inszenierung noch übrig bleibt, mit ihrer Kunst zu retten wissen.

Wir sahen die Aufführung am 06. Juli 2015 im Théâtre de l’Archevêché, die 2. Vorstellung der laufenden Serie. Das Publikum hat’s genossen: die Musik, die „geläufigen Gurgeln“, die Brutalitäten der Inszenierung, die Verweise auf die Welt von Heute? Ich weiß es nicht.

Tartuffe bei der schottischen Sektengemeinde – und Ginevra packt die Koffer. Ariodante beim Festival d‘ Aix-en-Provence

Bietet Aix-en-Provence im allsommerlichen Festspielreigen wirklich etwas Besonderes? Wer es liebt, Oper live nach Mitternacht zu hören und zu sehen, der sollte Aix-en-Provence nicht versäumen. Dort spielt man Ariodante im Innenhof des ehemaligen erzbischöflichen Palasts, beginnt gegen 21 Uhr und endet gegen 1.30 Uhr. Und um Mitternacht da gibt es zum Finale des zweiten Akts eine ungewollte Einlage. Nein, dieses Mal streiken nicht die „Intermittents“, klappern nicht deren Sympathisanten mit Kochtöpfen. Nein, die Intermittents hatten schon vor Aufführungsbeginn einen kurzen Auftritt, trugen schön zivilisiert ihre Forderungen an den französischen Staat vor und erklärten sich arbeitsbereit. Dieses Mal lärmten wohl auf der nahen Place de l’Hôtel de Ville  andere Kunstbegeisterte. So gab es denn zum Lamento der Ginevra und zur Ballettmusik afrikanischen Trommelwirbel als Basso continuo. Bewundernswert, wie sich Ginevra alias Patricia Petibon von diesem außerplanmäßigen Basso continuo nicht stören ließ und so brillant wie bisher einfach weiter sang und spielte. Und sagen wir es bei dieser Gelegenheit gleich: Madame Petibon war an diesem Abend von Gesang und Spiel und Bühnenerscheinung und nicht zuletzt auch von der Regiekonzeption her der unumstrittene Star des Abends. Wie sie sich vom unbedarften verliebten Mädel, das an Papa und Liebhaber gleichermaßen hängt, zur ‚emanzipierten‘ jungen Frau wandelt, wie sie sich vom dümmlichen Bräutigam und vom machtlüsternen Papa, die sie, unabhängig voneinander, doch letztlich gemeinsam, nahezu in den Wahnsinn getrieben hatten,  wie sie sich von diesen löst und dem Terror entflieht, all dies ist schon bewundernswert – und von der Regie stringent und überzeugend angelegt.

Ich bin nicht unbedingt ein Fan des Regie-Duos Jones und Utz. Ganz im Gegenteil. Ihren Münchner Lohengrin (Häuslebauer Elsa vertreibt den Zimmermann) fand ich einen ärgerlichen Flop. Doch ihre Ariodante-Version ist intelligent und stimmig. Mit einem Wort: sofistecated.  Die Regie verlegt das Geschehen aus einem pseudomittelalterlichen in das klaustrophobische Ambiente einer Sektengemeinde der siebziger Jahre. Ganz im Sinne dieser Klaustrophobie spielt sich alles Geschehen in einem einzigen Raum ab. Es gibt keine Privatheit. Es gibt nur öffentlichen Tugendterror. In dieser schottischen Sektengemeinde hat ein machtgieriger und sexgeiler Tartuffe (bei Händel der Intrigant Polinesso) das Sagen, eine Rolle, die Sonia Prina mit geradezu umwerfendem komödiantischem Talent gestaltet. Die Brüder Ariodante und Lucarnio sind, obgleich sie wohl schon länger zum Clan gehören, blasse Fremde geblieben und werden so umso leichter Opfer der Intrige.

In Aix spielt man Ariodante ohne Striche und noch dazu mit der Ballettmusik und gibt das Ballett als Marionettentheater. Marionetten stellen Ginevra und Ariodante dar, spielen als Theater auf dem Theater den Protagonisten ihr Geschick vor. Im zweiten Akt Ginevras Albtraum von ihrer Degradierung zur Hure und von ihrer Vernichtung. Im ersten und im dritten Akt (dort als scheinbares lieto fine)  die Hochzeit- und die Familienidylle. Und jetzt im Finale signalisiert das Marionettenspiel noch eine zusätzliche Pointe. Ginevra flieht nicht nur vor dem Tugendterror  der Gemeinde und der Erbärmlichkeit ihres Liebhabers. Sie flieht auch vor der drohenden Idylle.  Sie packt einfach die Koffer und geht.

So wird in der Jones/Utz Version aus einer Händel Oper, die sich einst an einer Episode aus dem Orlando Furioso orientierte, ein modernes Emanzipationsstück, das die Männer zu lüsternen Intriganten und dümmlichen Trotteln und die Frau zur Primadonna im Wortverstande macht. Ein Stück, das von der ‚Selbstfindung‘ einer modern jungen Frau erzählt – und dies zu einer Musik, die zwar wie in der berühmten „Scherza infida“ Arie ihre Melancholie Exzesse auskostet, die aber, wie zurecht Maestro Andrea Marcon bemerkt, von „Spontaneität“ und „Frische“ bestimmt wird. Und entsprechend präsentieren sie auch Marcon und das Freiburger Barockorchester.

Bietet das Festival d‘Aix-en-Provence wirklich etwas Besonderes? Grämt nicht die lange Fahrt? Beim Ariodante sind Orchesterklang und Gesang und Inszenierung wohl vom Allerfeinsten. Das Ambiente indes enttäuscht. In den Innenhof des barocken Palasts hat man eine riesige Guckkastenbühne mit Bühnenhaus und Orchestergraben gesetzt und damit die ‚Aura‘ des Patio zerstört. Doch für all dies entschädigen ein brillantes Ensemble und das Licht und die Farben der Provence. Ob ich noch einmal hinfahre? Mag sein. „Die lange Fahrt, die geht zu End‘; ehe noch die Sonne sinkt“.

Wir sahen die Aufführung am 18. Juli 2014.