Im Schmelz versinken – bis zur Lichtpause. Eugen Onegin am Theater Freiburg

Tschaikowskys lyrische Szenen laden zu vielerlei Deutungen ein. Die einen wollen in Tatjana, der eigentlichen Protagonistin, eine selbstbewusste moderne „starke Frau“ sehen, andere inszenieren zur privaten Geschichte die russische Geschichte gleich mit, wieder andere machen aus Eugen Onegin eine Schwulenoper, in der die Frauen nur stören, wieder andere setzen ein Märchen aus Poesie und Traum, Liebe und Melancholie, Vergeblichkeit und Scheitern in Szene, nein, genauer: ein mit leichter Ironie gebrochenes Antimärchen. So Barrie Kosky in seiner Variante des Eugen Onegin in der Komischen Oper Berlin.

In Freiburg – das ist der erste Eindruck – hat man sich für die romantische Variante entschieden. … → weiterlesen

Wer ist Onegin? Eine befremdende Tschaikowski Inszenierung an der Oper Frankfurt

Maja Dumat - CC BY 2.0

„Wer ist Onegin?“ – so fragt Theatermacher Jim Lucassen im November-Dezember Magazin der Frankfurter Oper und lässt die Antwort offen. Wer ist Onegin? – so fragt sich die Besucherin in der Vorstellung und weiß keine Antwort. Wer ist dieser Onegin? Ein spätromantischer Dandy ist er nicht. Ein Melancholiker, der an Überdruss und Langeweile leidet, wie es das Libretto vorgibt, ist er auch nicht.

„Wer ist Onegin?“ Vielleicht gibt die Szene, in die Lucassen und Dorothea Kirschbaum ihren Onegin stellen, Aufschluss. Die Szene ist eine Großbäckerei mit angeschlossenem Festsaal, in dem im Stil des sozialistischen Realismus ein pompöses Wandgemälde die Großtaten der Sowjetunion verherrlicht. Sind wir bei den Sowjets oder vielleicht in der DDR? Die Großbäckerei ist dann wohl eine Kolchose, in der Larina Brigadier ist, in der die Bauern zu Bäckern geworden sind, emsig Brot kneten und schöne Lieder singen, eine Kolchose, in der Olga den Betriebskindergarten, die Kita, leitet, in der die Amme eine gerade noch geduldete Rentnerin ist und Tatjana auf einem Berg von Stühlen hockt und sich mit einem Haufen zerrissener Blätter beschäftigt.… → weiterlesen

Blütenträume und Liebeshändel in der Reihenhaussiedlung: Eugen Onegin am Aalto-Musiktheater in Essen

Als „lyrische Szenen“, nicht als Oper wollte Tschaikowsky bekanntlich seinen Onegin verstanden wissen. Und „lyrische Szenen“ ereignen sich in Essen in der Tat: im brillanten Orchesterklang mit seinen solistischen Passagen, in dieser Verbindung von „Lyrik, Pathos und Tragik“, wie Maestro Srboljub Dinic im Programmheft die Musik des Onegin beschreibt. „Lyrische Szenen“ ereignen sich nicht minder in den fast durchweg brillant vorgetragenen Gesangpartien. Ja, es wäre alles so schön, oder wenn man will, so schön kitschig und romantisch, so süß und sentimental gewesen, wenn die Regie nicht versucht hätte gewaltsam gegenzusteuern: mit der Folge, dass die Szene in den ersten beiden Akten  im Kleinbürgermief  erstickte und im Schlussakt im Hollywood Kitsch versank.… → weiterlesen

Erotische Träumereien einer reifen Dame und eines Dandy – und russische Geschichte als Beigabe. Stefan Herheim inszeniert Eugen Onegin in Amsterdam

Erotische Träumereien einer reifen Dame und eines Dandy aus der Welt von Gestern – und russische Geschichte von den Zaren bis hin zu Putin als Beigabe. Stefan Herheim inszeniert Eugen Onegin am Muziektheater Amsterdam

‚Lyrische Szenen‘, nicht Oper, hatte Tschaikowski  einst seinen Eugen Onegin genannt. In München hat man vor einigen Jahren aus den angeblich lyrischen Szenen eine grandiose Schwulenoper gemacht, in der zwei Männer, Onegin und sein Freund Lenski,  nach ihrer sexuellen Bestimmtheit suchen und die Frauen nur noch Nebenpersonen sind. In Leipzig (und anderswo) war Konwitschny den umgekehrten Weg gegangen und hatte aus der Figur der Tatjana eine „revolutionäre Frau“ gemacht, eine authentische Figur, gegenüber der alle anderen  nichts anderes als fremdbestimmte Marionetten sind. Bei Stefan Herheim – und wer seine Grazer Rusalka, seinen Stuttgarter Rosenkavalier, seinen Berliner Lohengrin gesehen hat, den überrascht das nicht – bei Stefan Herheim… → weiterlesen

„Für revolutionäre Frauen fehlen die Männer“ – und so enden sie in der Ehehölle. Eine grandiose Wiederaufnahme von Konwitschnys Eugen Onegin an der Oper Leipzig

„Für revolutionäre Frauen fehlen die Männer“ – und so enden sie  in der Ehehölle. Eine grandiose Wiederaufnahme von Konwitschnys Eugen Onegin an der Oper Leipzig

In München inszeniert man den Onegin als die verzweifelte Suche zweier Dandies  nach ihrer sexuellen Bestimmung (was bin ich denn: hetero, schwul, bi?), eine Suche, bei der Frauen kaum mehr als störende Zicken sind. In Stuttgart begreift man Eugen Onegin als Parodie eines sentimental romantischen Kitschromans und garniert diesen mit einer Vielzahl literarischer Verweise. Beides überdurchschnittliche, herausragende Inszenierungen. Doch so brillant diese Aufführungen  auch sind, mit Konwitschnys Version des Onegin, die schon vor fünfzehn Jahren in Leipzig Premiere hatte, seitdem in mehreren Häusern gezeigt wurde und jetzt in Leipzig wieder aufgenommen wurde, können sie nicht mithalten. Konwitschny begreift Tschaikowskis Oper als Hommage an eine „revolutionäre“ Frau, an eine Frau, die im Verhältnis der Geschlechter zueinander alle Konventionen sprengt und die sich am Ende doch den Konventionen fügt – aus Einsicht in die Dürftigkeit der möglichen Partner. Für Konwitschny heißt die Oper nicht Onegin, sondern Tatjana, und seine Tatjana ist kein verhuschtes Mädchen vom Lande, das sich in einen gelangweilten und langweiligen Gecken verknallt. Sie wird  – für einen Moment in ihrem Leben – zur einzig authentischen Person inmitten einer Galerie von Nichtauthentischen, von Laffen, die die Rolle des Literaten (Lensky), des Dandys und Frauenhelden (Onegin), des dümmlichen, Phrasen dreschenden Militärs (Gremin), der Landpomeranze (Olga) spielen. Sie alle, nicht nur die Protagonistin Tatjana, leiden am Lektüreschaden, versuchen sich an einer Literarisierung des Lebens, warten darauf, dass etwas mit ihnen geschieht, warten darauf, dass ihnen wie einstens dem fahrenden Ritter im Versroman die ‚Aventüre“ begegne und wenn sie dann kommt,  erkennen sie sie nicht und verpassen sie sie. Nicht von ungefähr ist die Szene ein großer Wartesaal (eine ferne Referenz an die Vorhalle im Leipziger Hauptbahnhof), und nicht von ungefähr liegt in der zum Publikum gerichteten Ecke des Saals ein ganzer Stapel zerlesener Bücher. Zu diesen Büchern flüchtet sich Tatjana zu Beginn der Briefszene, in diesen Büchern sucht sie Analogien, Parallelen, Antworten, Formulierungshilfen für ihren Liebesbrief. Und wäre sie eine Emma Bovary, dann fände sie dort, was sie suchte: nichtauthentisches Material, Worthülsen für eine nichtauthentische Liebessprache, eben jederzeit einsetzbare, jederzeit verwendbare Fragments d’un discours amoreux. Doch Tatjana, wie sie Konwitschny begreift, wirft alles Vorgestanzte von sich, nimmt ein scheinbar achtlos weggeworfenes Stück Papier, das Geschenkpapier, in das der Besucher Onegin sein Gastgeschenk, eine Flasche Wein, eingewickelt hatte, verlässt fluchtartig die Bücherzelle, rennt auf die Passarelle, macht gleichsam im Dialog mit dem Publikum ihre Passion öffentlich, findet fern aller Literatur eigne Worte, emanzipiert sich, wird authentisch für einen Augenblick – und verkriecht sich in der nächsten Szene geradezu in den Vorhang, greift verzweifelt zu den Büchern, als das ’Objekt der Begierde’ sich ihr als betrunkener Bordellbesucher präsentiert. ’Liebe als Passion’, Liebe als Mittel der Selbstfindung contra Liebe als Triebabfuhr. Schneidender und erbarmungsloser lässt sich der Kontrast kaum in Szene setzen. In die Bücherecke wird sich im Finale auch Onegin flüchten, als er mit Liebesphrasen Tatjana zu gewinnen sucht und sich dabei in die unfreiwillige Parodie eines romantischen Jünglings oder eines postpubertären Werthers steigert. Und wenn Tatjana diesem Werben nicht nachgibt, dann geschieht dies zwar auch, weil sie ganz konventionell die bürgerliche Familienidylle nicht in Gefahr bringen will (konsequent reiht sie sich in der Schlussszene in die zum Applaus angetretene Gesellschaft wieder ein – eine Gesellschaft, die hinter dem Vorhang und durch den Vorhang Tatjanas Verhalten beobachtet hat). Doch der eigentliche Grund, warum Tatjana und Onegin nicht zusammen kommen können, liegt tiefer, und die Regie zeigt diesen in einer symbolischen Geste der Tatjana auf. Tatjana zerreißt den Liebesbrief, den sie einstens Onegin geschrieben hat und den sie noch immer aufbewahrt, als sie erkennt, dass Onegin mit Phrasen, mit nichtauthentischen Materialien der Liebessprache um sie wirbt und zur Aufrichtigkeit, zur Authentizität, zu der sie sich einst bekannte, nicht fähig ist.

Einfacher ausgedrückt: es macht keinen Sinn für sie, den einen Phrasenheini, den halbsenilen russischen Offizier, den Ehemann, der mit Schulbuchweisheiten über die Macht der Liebe von der Loge herab schwadroniert, gegen den zweiten Phrasenheini, den romantischen Dandy zu tauschen. Für „revolutionäre Frauen“ gibt es halt, wie Konwitschny in seiner Einführung zu Recht kommentiert, keine adäquaten Partner. Im Rahmen dieser alles Konventionelle und Oberflächliche  aufsprengenden Konzeption gelingen der Regie immer wieder brillante Bilder, die die nur scheinbaren Lyrismen des Libretto in  dramatische Szenen transformieren. Das Duell findet nicht statt. Die beiden Freunde werden von den Umstehenden immer mehr eingekreist, gegeneinander gedrängt, können sich gegen den Druck von außen, eben weil sie getriebene, fremdbestimmte, nichtauthentische Figuren sind, gar nicht wehren und die danse macabre, zu der Onegin den toten Freund zerrt, gerät zur grotesken Polonaise. Tatjana ist bei dem großen Fest im zweiten Akt zum Püppchen, zum Zombie mutiert und bemerkt gar nicht mehr, was mit ihr geschieht. Der Wartesaal ist zur Rutschbahn, zur Eisbahn geworden, auf der die Gäste ständig ausgleiten. Und über allem hängt ein papierner Karnevalsmond: ein Fest der Maskenträger, der Nichtauthentischen. Zum Finale, zum letzten Dialog, zum letzten Duett mit Onegin zieht Tatjana den Vorhang zu: alles war nur Theater, das Spiel ist aus und wenn ich auch daran zerbreche – auch dies signalisiert das Zerreißen des Liebesbriefes, das Zerreißen in immer kleinere Fetzen. Unnötig zu sagen, dass eine solch höchst anspruchsvolle und brillante Inszenierung des Eugen Onegin, wie sie in Leipzig zusehen ist, sich nur mit herausragenden Sängerschauspielern realisieren lässt. Marika Schönberg und Pavol Remenár sind in Gesang und Spiel geradezu Idealbesetzungen für die Rollen der Protagonisten. Wir sahen die Aufführung am 11. September 2010, die „Wiederaufnahme-Premiere“.