Im Schmelz versinken – bis zur Lichtpause. Eugen Onegin am Theater Freiburg

Tschaikowskys lyrische Szenen laden zu vielerlei Deutungen ein. Die einen wollen in Tatjana, der eigentlichen Protagonistin, eine selbstbewusste moderne „starke Frau“ sehen, andere inszenieren zur privaten Geschichte die russische Geschichte gleich mit, wieder andere machen aus Eugen Onegin eine Schwulenoper, in der die Frauen nur stören, wieder andere setzen ein Märchen aus Poesie und Traum, Liebe und Melancholie, Vergeblichkeit und Scheitern in Szene, nein, genauer: ein mit leichter Ironie gebrochenes Antimärchen. So Barrie Kosky in seiner Variante des Eugen Onegin in der Komischen Oper Berlin.

In Freiburg – das ist der erste Eindruck – hat man sich für die romantische Variante entschieden. … → weiterlesen

In der tristen Welt der Unterschicht. Orpheus und Eurydike an der Oper Freiburg

Erleben wir im Musiktheater gerade eine ‚Renaissance‘ der romantischen Ästhetik eines Victor Hugo, einer Ästhetik, die den Kontrast zwischen „ Le Sublime  et le Grotesque“, zwischen Erhabenem und Hässlichem und das In-einander-Übergehen beider Bereiche betont? Wird diese Weltsicht gerade an Glucks Opern durchexerziert? Paris und Helena als Orgie von Gewalt und Sadismus in Nürnberg. Iphigénie en  Tauride als Trash unter Kolchose Bäuerinnen, deren Brigadier sich in den Kopf gesetzt, jeden Fremden von diesen abschlachten zu lassen – so geschehen bei den diesjährigen Salzburger Pfingstfestspielen.

Und jetzt in Freiburg wird Eurydike zu einer Drogenabhängigen aus der Unterschicht, die sich die Pulsadern aufschneidet.  Orpheus muss durch eine Hölle von lüsternen Voyeurs, prügelnden Familienvätern, Säufern, Obdachlosen, Selbstmördern und schlafenden Musikern. Geleitet wird er bei diesem Streifzug durch die Unterschicht von einem sadistischen Vorkriegsgymnasiasten (bei Gluck ein gewisser Amor). Zum Reigen seliger Geister lässt der kleine Sadist Orpheus noch einmal sein Glück und sein Unglück mit Eurydice als Video-Aufzeichnung erleben (Und jetzt versteht auch der Zuschauer, warum Spielort der ersten Szene ein Badezimmer ist: in der Badewanne hatte sich Eurydike verbluten lassen). Das Elysium, das sich Orpheus endlich öffnet, ist wohl der Freizeitraum eines Sanatoriums, in dem glückliche Menschen in luftiger Sommerkleidung schaukeln und singen.… → weiterlesen

Karnevalisierung im Exzess. Calixto Bieito inszeniert im Theater Freiburg Ligetis Le Grand Macabre

Ich bin nicht unbedingt ein Ligeti Fan – mag er für die Musikhistoriker auch ein Klassiker zeitgenössischer Musik sein. Ich bin unbedingt ein Bieito Fan – mag er für manchen Kritiker auch der „Unterleibhaftige“ des heutigen Regietheaters sein. Die auf Unterleibtheater Versessenen, die kommen in Freiburg nicht auf ihre Kosten. Doch für alle Freunde der Karnevalisierung, des Karnevals im Sinne Michail Bachtins, für die ist  großzügig der Tisch, sprich: die Bühne, bereitet. Die Szene wird zum bunten Bilderreigen, in dem sich Bachtins „Lachkultur“ und deren Begriffssprache konkretisieren: die Groteske und der groteske Leib, die auf den Kopf gestellte Welt, die Profanation des Heiligen, die Mesalliance, die allgemeine  Familialisierung, die Exzentrik und immer wieder das befreiende Lachen, mit dem allem  Schrecken begegnet wird. Auf Bachtin und seine Karnevalisierung als Regiekonzept zu kommen, dazu bedarf es allerdings bei einem Libretto wie Le Grand Macabre, einer Bearbeitung von Ghelderodes gleichnamigem Stück vom Jahre 1934, keiner allzu großen intellektuellen Anstrengung. Ghelderodes Stück La Balade du Grand Macabre, eine Parodie der Parusie, der Wiederkehr Christi am jüngsten Tage, bietet geradezu eine klassische Vorlage für das Karnevalisierungskonzept. Der Untergangsprophet Nekrotzar (die Namen aller Figuren haben eine leicht durchschaubare Namenssymbolik) ist zugleich eine Art teuflischer Wiedergänger, ein Komödiant, ein Säufer und natürlich ganz im Sinne von Bachtins „umgestülpter Welt“ die Parodie der Christusfigur, der pervertierte Erlöser, der nicht mehr ewiges Leben, sondern ewigen Tod verkündet, dessen Botschaft verlacht wird, der im Suff seine angebliche Mission vergisst und dem doch im Reigen der grotesken Figuren, die sich da auf der Bühne tummeln und die gleich die ersten Reihen des Parketts mitsamt den etwas peinlich berührten Zuschauern mit zur Spielfläche machen, letztlich nur eine Nebenrolle zukommt. Und in der Tat ist so ziemlich alles versammelt, was das Bachtinsche Panoptikum der Karnevalisierung ausmacht: der unförmig aufgeschwellte Leib in der Säuferfigur des Piet vom Fass und des schwangeren Mädchens, das immer wieder durch die Szene und den Zuschauerraum geistert, der monströse Phallus, den sich le grand macabre umbindet, um die sextolle Megäre zum scheinbar tödlichen Orgasmus zu  bringen, das überdrehte Liebespaar mit den sprechenden Namen Clitoria und Spermando, das sich in alle Winkel drückt, um seinen Gelüsten freien Lauf zu lassen und das von dem ganzen Weltuntergangsspektakel gar nichts mitbekommt, die heruntergekommene Tunte, die den Fürsten mimt, der seine beiden Minister zu Gespielen reduziert, der Hofastrologe als Mischung aus Tunte und Transvestiten, der Geheimdienstchef als Melange aus sowjetischem Offizier und Lesbe. Bachtins Karnevalskategorien werden geradezu bis zum Überdruss durchexerziert. Doch wie im ‚realen’ Karneval rettet vor den Peinlichkeiten, vor all den Albernheiten, die da zu sehn und zu hören sind, immer wieder das befreiende Lachen, ein Lachen, das eben mit ‚Entsetzen Scherz treibt’. Das „Brueghelland“, das scheinbar den Triumph des Todes und den Weltenuntergang erfährt, ist ein Land des Gelächters, eines Gelächters, das vor keinen Autoritäten Halt macht, ein Land, das den Triumph des Carpe Diem, des Lebensgenusses über den Tod feiert. In Freiburg steht ein hoch motiviertes, glänzend aufgelegtes Ensemble auf der Bühne, das all die Schwierigkeiten der anspruchsvollen Partien meistert und das noch dazu mit seiner unbändigen Spielfreude das Publikum begeistert. Wollte man von all den Solisten einen hervorheben, dann müsste es der Countertenor Xavier Sabata sein, der in der Rolle des tuntigen Fürsten Go-Go als Sänger und Schauspieler in der Tat alle Mitwirkenden noch überragt. Ein großer Theaterabend – ganz wie man ihn von einem Theatermann wie Calixto Bieito erwartet. Ein Abend, in dem die Szene und nicht die Musik dominiert – ganz wie man es bei Calixto Bieito erwartet. Salopp gesagt: bei dem grandiosen Spektakel, das da aufgezogen wurde, fiel der Soundtrack nicht weiter auf. Wir sahen die Vorstellung am 23. April 2010. Die Premiere war am 30. Januar 2010.