In einem Zaubergarten, in einem ‚Garten der Lüste‘, hielt Tassos Armida einst den Kreuzritter Rinaldo gefangen. Die Zürcher Alcina, wenngleich eine literarische Schwester der Armida, braucht keinen Zaubergarten. Ihr Reich ist die Welt des barocken Theaters, und dieser Welt und der Prinzipalin der Theatergruppe ist Ruggiero, ein junger Mann von heute, verfallen. Alcinas Theater ist im ganz konkreten Sinne ein barocker Theaterbau mit einer Bühne, die sich perspektivisch verjüngt und deren Dekor eine arkadische Landschaft nachbildet. Doch diese Bühne schafft nicht nur Illusionen, sie desillusioniert zugleich den Zuschauer, indem sie den Blick auf die Bühnenmaschinerie der Unterbühne frei gibt. Auf der Bühne präsentiert man zur Ouvertüre ein Ballett und spielt dann ein Theaterstück in barocken Kostümen mit barock gekleideten Chargen. Alcina, die Prinzipalin, hat das Stück für ihren Favoriten Ruggiero arrangiert. Und sie und ihr Geliebter spielen die Hauptrollen und spielen eine Szene aus ihrer eigenen Geschichte, spielen frei nach Tiepolos berühmtem Bild die Spiegelszene zwischen Rinaldo und Armida nach – und werden unterbrochen. Die Illusionen stören und zerstören zwei Eindringlinge, die von ihrem Outfit her (schwarzer Anzug und Umhängetasche) aus der Welt von heute stammen. Bradamante, die von Ruggiero verlassene Frau – sie gibt sich als deren Bruder aus – und Melisso, ein gemeinsamer Freund, wollen Ruggiero aus der Welt des Theaters, des Scheins und der Imagination in die ‚Realität‘, wie sie sie verstehen, zurück holen.… → weiterlesen
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Das große Schwulentheater. Christof Loy inszeniert Peter Grimes am Theater an der Wien
Ist dieser Peter Grimes, der da in einem ausrangierten Bett, das von der Rampe in den Orchestergraben ragt, schläft, nur ein Außenseiter? Ist dieser Peter Grimes, den eine ganze Horde von scheinbar braven Bürgern, nein, den der Mob brutal aufscheucht und des Totschlags verdächtigt, weil der Lehrling auf Grimes Fischerboot zu Tode kam, ist er nur ein Außenseiter oder vielleicht doch ein gefährlicher Psychopath? Ist er nur ein derber zu Brutalitäten neigender, ein sich selbst bemitleidender Egozentriker mit Illusionen vom besseren Leben jenseits der Dorfgemeinschaft? In welcher Beziehung steht Grimes zu seinem Freund, dem „ehemaligen Kapitän“. Verbindet die beiden ‚Männerfreundschaft‘ oder vielleicht doch etwas mehr? In welcher Beziehung steht Grimes zu der vom Helfersyndrom geplagten Lehrerin Ellen?… → weiterlesen
Ein todessüchtiger Romeo, eine traumatisierte Giulietta, ein italo-amerikanisches Mafia-Ambiente der 20er Jahre. Christof Loy inszeniert i Capuleti e i Montecchi an der Oper Zürich
Gleich zur Ouvertüre liegt das großbürgerliche Haus der Capuleti voller blutiger Leichen. Gleich zur Ouvertüre springt das Mädchen Giulietta, das gerade im weißen Unschuldskleidchen die Erstkommunion gefeiert hat, dem Vater auf den Schoß. Gleich zur Ouvertüre nähert sich der noch jugendliche Vater im Badezimmer dem Mädchen von hinten. Gleich zur Ouvertüre hält Giulietta in einer Pietà Geste den gerade erschossenen Bruder in ihren Armen. Bilder, die die Drehbühne wie bei einem schnellen Filmschnitt dem Zuschauer aufdrängt. Bilder, die zugleich die Grundkonzeption der Regie sowie die Leithemen offenlegen.
Christof Loy erzählt keine Geschichte aus einem fernen spätmittelalterlichen Verona. Er erzählt keine Liebesgeschichte. Er erzählt die Geschichte einer traumatisierten jungen Frau und eines dem Todestrieb verfallenen jungen Mannes. Giulietta singt zwar von der romantischen Liebe, von der Passion, die auch die eigene Vernichtung nicht scheut. Doch diese Giulietta kommt aus dem vom eigenen Vater gesetzten Trauma nicht los, von der inzestuösen Bindung an die dominante Vaterfigur. Erst als der Vater sie verstößt, da kann und will sie mit dem Geliebten fliehen. Erst da gelten die klassischen und offensichtlich nur vorgetäuschten ‚Tugenden‘ der Ehre und der Familienzwänge nicht mehr. Erst da ist das inzestuöse Trauma überwunden.
Man mag diese freudianische Deutung der Giulietta Figur, die so ganz den Klischees widerspricht, für abwegig halten. Doch konsequent und stringent ist sie im Rahmen der Inszenierung alle Male. Romeo und Julia können nicht zusammenkommen, nicht weil die rivalisierenden Gangster eine Verbindung verhindern, sondern weil die Verbindung zwischen Vater und Tochter keinen Platz für einen Dritten lässt und – dies ist das zweite Leitthema der Inszenierung – weil dieser Dritte ein Todessüchtiger ist, in den Tod verliebt ist und gleichsam eine homoerotische Verbindung mit der Todesfigur eingegangen ist. Dieser Tod ist kein Gespenst und kein Knochenmann. Er ist ein melancholischer junger Mann. Er ist stets präsent, ist Romeos (ganz wie sich dieser im Finale eingesteht) „ständiger Begleiter“. Dieser Begleiter reicht Romeo den fatalen Gifttrank, öffnet ihm das Fenster zu Giuliettas Zimmer, ist beim Angriff auf die Hochzeitsgesellschaft, beim Streit mit dem Rivalen wie auch bei der vergeblichen Friedensmission mit dabei. Romeo ist im Wortverstande ‚mitten im Leben vom Tod umfangen‘. Und ein gleiches gilt, wenn auch in geringerem Maße und mit einer überraschenden Schlusswendung, auch für Giulietta. Der stumme Todesjüngling reicht ihr den Betäubungstrank und trägt sie auf seinen Armen. Nur im Finale da entgeht sie anders als Romeo der Macht des Todes. Sie stirbt dem Geliebten nicht nach, sie stürzt davon und findet sich wieder in einem dämmerigen Zimmer voller blutiger Leichen, voller eben zu Tode gekommener Gangster. Endet sie wie Ophelia im Wahnsinn? Hat sich die eben ereignete Geschichte nur in ihrem Wahn ereignet, und wird sie sich in einer Endlosschleife immer wieder neu ereignen? Die Regie lässt die Frage offen.
Loys Inszenierung der I Capuleti e i Montecchi ist zweifellos ein Highlight, eine Inszenierung, die kein museales Kostümfest ist, die statt dessen den Mythos von Romeo und Julia aktualisiert, ohne ihn zu vergewaltigen, die mit der Herausstellung des latenten Inzestmotivs und des Todestriebs eine überraschende, faszinierende und zugleicht überzeugende Variante des Mythos vorschlägt.
Und die Musik? Für Bellini, so hat man oft gesagt, genügen zwei oder drei herausragende Stimmen, und ein Fest des Belcanto ist vorprogrammiert. In Zürich, wo Joyce DiDonato den Romeo und Olga Kulchynska die Giulietta singen, erlebt das Publikum ein grandioses Fest des Belcanto. Dort verbinden sich Belcanto und Inszenierung zu einer Aufführung, wie man sie sich kaum besser und schöner vorstellen kann. Zürich bietet wieder einmal Oper vom Allerfeinsten.
Wir sahen die Vorstellung am 12. Juli 2015. Die Premiere war am 21. Juni 2015.