Das große Schwulentheater. Christof Loy inszeniert Peter Grimes am Theater an der Wien

Ist dieser Peter Grimes, der da in einem ausrangierten Bett, das von der Rampe in den Orchestergraben ragt, schläft, nur ein Außenseiter? Ist dieser Peter Grimes, den eine ganze Horde von scheinbar braven Bürgern, nein, den der Mob brutal aufscheucht und des Totschlags verdächtigt, weil   der Lehrling auf Grimes Fischerboot zu Tode kam, ist er nur ein Außenseiter oder vielleicht doch ein gefährlicher Psychopath? Ist er nur ein derber zu Brutalitäten neigender, ein  sich selbst bemitleidender Egozentriker mit Illusionen vom besseren Leben jenseits der Dorfgemeinschaft? In welcher Beziehung steht Grimes zu seinem Freund, dem „ehemaligen Kapitän“. Verbindet die beiden ‚Männerfreundschaft‘ oder vielleicht doch etwas mehr? In welcher Beziehung steht  Grimes zu der vom Helfersyndrom geplagten Lehrerin Ellen?

Fragen, die die Regie bis zum Finale des ersten Akts in der Schwebe lässt, um sie dann mit dem Erscheinen des neuen Gehilfen John eindeutig, um nicht zu sagen mit plakativer Offenheit zu beantworten. Dieser kräftige, athletische Peter Grimes (in der Person des grandiosen Sängerdarstellers Joseph Kaiser) ist schwul, hochgradig schwul, hat eine  Neigung zu schönen jungen Männern. Ein Aschenbach aus der Unterschicht, der nicht schöngeistig reflektiert,  sondern der nur die Sprache des Körpers kennt,  der schon beim ersten Augenkontakt mit dem  schönen Gehilfen geradezu außer sich gerät, der mit gewalttätiger Lust den Schönen an sich zieht, eine Lust, die nach kurzem Zögern der Jüngling teilt. Ganz wie Tadzio ist auch der schöne John ein Psychopomp, ein Todesbote.  Doch anders als Tadzio geht John seinem Liebhaber im Tod voraus. (Das Libretto will, dass John auf der Flucht vor den Dorfbewohnern von der Klippe zu Tode stürzt). Die Szenen, in denen Grimes den toten John wie eine Pietà in den Armen hält und dann mit ihm einen erotischen Totentanz aufführt, gehören zweifellos zu den stärksten der Aufführung.

Tadzio/John bannt nicht nur Grimes. Auch  der „ehemalige Kapitän“ entdeckt im erotischen Spiel mit dem schönen Jüngling zum eigenen Entsetzen seine unterdrückte Homosexualität und wird sich im Finale in das Bett des Freundes Grimes legen und genau so brutal aufgeweckt werden, ein neuer Grimes, die Wiederkehr des ob seiner sexuellen Andersartigkeit aus der Gemeinschaft Ausgestoßenen und in den Selbstmord  Getriebenen.

Und die Dörfler? Sexuell Gehemmte oder sexuell Enthemmte sind sie wohl alle. Der Anwalt und der Methodistenprediger, die sich auf die angeblichen Nichten der Wirtin stürzen, der anglikanische  Pfarrer, der angetrunken aus der Transvestiten Show kommt.  Und Ellen, die Lehrerin?. Sie ist die traurigste Figur in diesem Panoptikum. Ein geschlechtsloses Wesen, im ständigen Zweifel über seine sexuelle Orientierung. Vielleicht eine Lesbe oder ein androgyner Jüngling, der vergeblich den schwulen Macho für sich gewinnen will.

Peter Grimes, das ist für die Regie zwar auch die Parabel vom Außenseiter und vom Ausgestoßenen. Doch diese Deutung träfe zu kurz. Peter Grimes, das ist die Parabel von der unterdrückten  homoerotischen Sexualität,  unterdrückt, weil sie von der Gesellschaft, von den ‚Anderen‘, nicht toleriert wird und die, wenn sie dann endlich ausbricht, in die Katastrophe führt.

Dieser Wiener Peter Grimes ist eine Inszenierung der absoluten Spitzenklasse. Auch hier bleibt Loy seinen Markenzeichen, der ausgefeilten Personenregie und dem Minimalismus, treu. Auf der leicht ansteigenden schwarz ausgekleideten Spielfläche, auf der alle Figuren wie eingeschlossen in ihrer Hölle wirken, finden sich als einzige Requisiten ein paar simple Stühle, eine Couch und als corpus delicti das Bett, Ort der gelebten, der unterdrückten und der erhofften Lüste und Gelüste.

Und die Musik? Kein Zweifel, dass das ORF Radio-Symphonieorchester unter Cornelius Meister einen exzellenten Britten zu spielen weiß. Doch ich muss gestehen, dass Szene, Solisten und Chor so überwältigend waren, dass  ich die Musik nur noch als Soundtrack zu einem großen Spektakel wahrgenommen habe.

Wir sahen die Aufführung am 20. Dezember 2015. Wie schade, dass heute, am 22. Dezember, schon die Dernière ist. Glanz und Elend des Stagione Betriebs.