Fast fünfhundert Inszenierungen habe ich in den letzten Jahren gesehen und mir meine Impressionen von der internationalen Opernszene notiert. Kritiken in den Feuilletons der großen Zeitungen und in den Magazinen habe ich, mal erstaunt, mal verärgert, mal zustimmend, zur Kenntnis genommen. Eine Inszenierung, wenn sie gut gemacht ist, ist eben ein ‚offenes Kunstwerk‘, das zu unterschiedlichen Interpretationen einlädt.
Heute notiere ich zum ersten Mal nicht meine Impressionen, sondern wende mich in Form eines fiktiven offenen Briefes an die Musikredaktion einer großen Tageszeitung gegen die dort erschienene Besprechung der Pariser Inszenierung von La Damnation de Faust. Diese Besprechung war nicht die Kritik einer Aufführung, sondern … Der Leser mag selber urteilen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
die meist informativen, mitunter von Feuilletonlyrik durchzogenen, manchmal unfreiwillig komischen Musiktheater Besprechungen Ihrer Radakteurin schätze ich sehr. Und deren ewige Jungmädchen Schwärmerei für unseren singenden Adonis (Jonas Kaufmann), von der (und von dem) sie auch jetzt in Paris bei der Neuinszenierung von La Damnation de Faust nicht lassen mag, nehme ich amüsiert zur Kenntnis.
Eher ärgerlich ist es, wie sich Ihre Mitarbeiterin mit typisch deutscher Kritiker- Arroganz zur Publikumsbeschimpfung hinreißen lässt. Peinlich wird es, wenn sie angesichts des vorweihnachtlichen Trubels in Paris mit dem Dünkel der moralischen Überheblichkeit den Opernbesuchern und pauschal gleich der ganzen Stadt mangelnde Trauerarbeit vorwirft.
Perfid, um nicht zu sagen, infam ist es indes, wie Ihre Redakteurin den Regisseur und Theatermacher Alvis Hermanis, dessen politische Einstellung nicht dem intoleranten Furor der selbsternannten deutschen Tugendbolde entspricht, als Person und als Künstler niedermacht. Ein Drittel ihres Beitrags nutzt die Redakteurin, um Hermanis in gehässiger Weise drohend abzukanzeln („Die Akte Hermanis ist jedenfalls nicht geschlossen“), weil dieser sich erlaubt hat, in der sogenannten Flüchtlingsfrage sich gegen den Mainstream zu stellen. Man braucht die politischen Ansichten von Hermanis nicht zu teilen. Doch dass ein Theatermann, der für die französische Presse zu den zehn bedeutendsten europäischen Regisseuren zählt, bei dem spießigen hypokriten Engagement, mit dem Hamburger Theatermacher glauben, sich in Szene setzen zu müssen, nicht mitmachen will, das zeugt von Mut. Das ist Zivilcourage, die Bewunderung und keine Häme verdient.
Es bleibt Ihrer Redakteurin unbenommen, ihr Mütchen an dem „Migranten und Mitmenschen“ (sic) Hermanis zu kühlen und implizit für political correctness zu schwärmen. Doch was man ihr nicht durchgehen lassen sollte, ist, dass sie nicht zwischen Person und Werk zu unterscheiden vermag und ihre Abneigung gegenüber Hermanis auf seine Inszenierung von La Damnation de Faust überträgt: „Hermanis ersann eine pädagogische Volkshochschul-Diashow mit Musikuntermalung“. Simple Gemüter mögen das so sehen.
Wie schade, dass Ihre Redakteurin aus lauter Widerwille und Antipathie gegenüber Hermanis all ihre Urteilskraft und Sensibilität draußen vor der Tür gelassen hat. Ohne diese Protestaktion hätte sie sicherlich erkannt, dass dieser Pariser Berlioz Faust mitnichten eine Diashow für Volkshochschüler ist. Sie hätte in den Bildern die Verweise auf Bill Viola und Stanley Kubrick gesehen und begriffen, dass Hermanis, als er Stephen Hawking zum neuen Faust machte, eine Variante, eine aktualisierende Variante, des Faust-Mythos in Szene gesetzt hat, eine Variante, die das berühmte Motiv („Mythem“) von der grenzenlosen intellektuellen Neugierde ins Zentrum stellt. „Arbeit am Mythos“ mit den Mitteln des Theaters.
Wie schade, dass selbst in der Musikredaktion einer großen deutschen Tageszeitung der Hang zur political correctness und persönliche Sympathien und Antipathien den Blick für ernsthafte künstlerische Arbeit zu trüben vermögen.
Wir sahen die Aufführung am 3. Dezember 2015. Die laut Programmheft zweite Vorstellung in dieser Inszenierung.