Unser Emeritus träumt von Weibern und Dämonen. Ein heterogener Gounod Faust an der Staatsoper im Schiller Theater

Da sind die Rollen des Faust, des Méphistophélés, der Marguerite mit Pavol Breslik, René Pape und Tatiana Lisnic höchst brillant besetzt, da schwelgt die Staatskapelle unter Simone Young im wundersüßen Gounod Kitsch, einer Musik, die die Zuhörer geradezu einlullt. Und jeder von uns vergisst das Husten – und das Liebespaar vor mir das Knutschen.

Es war alles so schön, und noch schöner wäre es gewesen, wenn das Regieteam eine Grundkonzeption gehabt und nicht so verzweifelt nach einer szenischen Lösung gesucht hätte. Richtig, so mögen sie im Team gedacht haben, das Volksbuch vom Doktor Faust soll der Knabe Goethe als Puppenspiel gesehen haben. Gut so. Stecken wir ganz in diesem Sinne unseren Rentnerprofessor in ein Puppentheater und machen den Mephisto zum diabolisch aussehenden Theaterdirektor. (Dass dieser mit seinen dunklen Augengläsern, die der Sänger Pape während der gesamten Aufführung tragen muss, wie ein Mafiapate aussieht, nehmen wir in Kauf). Bei der Puppentheater Konzeption  ist es nur konsequent, wenn das närrische Volk im zweiten Akt auf sich steif und hölzern bewegende Marionetten macht und Marguerite (mehr als unvorteilhaft für die Sängerin)  als füllige Käthe Kruse Puppe auftreten muss. Was  Juniorprofessor Faust (vom Outfit her ein aufstrebender Parteifunktionär)  mit dieser Puppe anfangen soll, ja, das wissen wir noch von der Schule her.

Im zweiten Akt will die Regie vom Puppenspiel nichts mehr wissen und bietet uns vor grüner Lichtkulisse Märchentheater an.  Oh Wunder! Da schwebt doch tatsächlich (nein, kein Hexenhaus) ein Butzenscheibenhäuschen vom Bühnenhimmel herab, gerade so groß, dass das Lotterbett hinein passt. Was der Juniorprofessor dort mit dem verliebten Mägdelein macht, auch das wissen wir noch von der Schule her. Das ist auch gar nicht so wichtig. In der Oper singen die beiden, bevor sie im Finale in der „demeure chaste et pure“  verschwinden, so schön und so brillant und so wundersüß, dass uns gar nicht mehr interessiert, was die da drinnen treiben.

Nach der Pause (dritter Akt, erster Teil) sind wir dann wieder bei den Marionetten. Vermengt wird jetzt das Marionettenspiel der Choristen mit einer Prise Mysterienspiel – ganz wie es das Libretto und die Musik wollen: Orgelklang plus Mephisto als mitleidsloser, die Sünderin verdammender katholischer Pfarrer im Messgewand. Im zweiten Teil des dritten Akts gibt’s dann Puppenspiel (Auftritt der heimkehrenden Soldaten) plus Einschübe von ‚realistischem‘ Theater. Marguerite in ihrem blutverschmierten Kleid hat wohl, so suggeriert uns die Regie, eine Sturzgeburt gehabt, und der von Faust gemeuchelte Valentin darf gleich literweise Theaterblut vergießen. Die Ballettmusik im vierten Akt und damit bis auf ein paar dramaturgisch notwendige Szenen auch die Walpurgisnacht fallen aus. Im Finale sind wir schließlich beim Minimalismus angelangt. Auf leerer Bühne dürfen Pavol Breslik und Tatiana Lisnic – ganz ungestört von jeglicher Regie –  noch einmal als Gesangsstars brillieren.

Und ganz zum Schluss gibt es doch noch einen Regiegag. Während der Osterchoral erklingt, öffnet sich der Zwischenvorhang und zeigt eine tafelnde Festgesellschaft. Emeritus Professor Faust, dem man wohl gerade noch einen weiteren Ehrendoktor verliehen hat, besetzt den Ehrenplatz und ist eingeschlafen. Kollege Mephisto setzt sich neben ihn. Ach, jetzt in letzter Minute erinnert sich die Regie an die Möglichkeiten des Traumdiskurses und signalisiert uns,  dass alles, was wir gesehen haben, doch nur der Wunschtraum eines senilen Rentnerprofessors war und dass sie, die Regie, doch viel lieber „Das Leben ein Traum“ (La vida es sueño) inszeniert hätte.

Ein Traum ist dieser Berliner Gounod Faust. Ein Traum im doppelten Sinne: Traumhaft waren Gesang und Orchesterklang. Ein Albtraum war die szenische Umsetzung. Doch seien wir nicht so streng. Dem Publikum hat’s gefallen. Sagen wir einfach. Auch „die Weimarer Weiterentwicklung der Inszenierung“, die jetzt in Berlin gezeigt wurde, erreicht bei weitem nicht das Niveau des Musik Parts.

Wir sahen die Aufführung am 23. Dezember 2015. Es war laut Programmheft die 19. Vorstellung. Die Premiere war am 15. Februar 2009.