Im Irrenhaus? Im Inferno? In den Wahnwelten einer Hysterikerin? Elektra im Opernhaus Zürich. Eine Wiederaufnahme einer Inszenierung von Martin Kusej vom Jahre 2003

In Zürich hatten wir im Dezember mit der Frau ohne Schatten einen geradezu berauschenden Strauss Abend erlebt. Auch die Inszenierung mit ihren Max Ernst Zitaten, mit ihren Verweisen auf die späte Habsburgerzeit und auf Zolas Edelproletarier und nicht zuletzt auch mit ihren Metatheatergags war durchaus gelungen. Und jetzt bei der Elektra?  Ein zwiespältiger Eindruck  bleibt da zurück. Zwar singt und agiert ein renommiertes Ensemble, zwar spielt das Zürcher Orchester brillant wie immer. Doch dieses spezifische Strauss Ambiente,  diese angebliche Ekstase, die die Elektra- wie die Salome Musik auszeichnen sollen, all dies will nicht so recht aufkommen. Die Musik packt nicht. Sie bleibt einfach kalt. Vielleicht klang alles zu laut und zu undifferenziert?  Ich weiß es nicht. Auch die Inszenierung war weit davon entfernt, eine subtile Dekadenzatmosphäre zu suggerieren. Ganz im Gegenteil. Von der Subtilität und der Psychologisierung, mit denen Hofmannsthal den Elektramythos neu erzählte, will sie wenig oder gar nichts wissen. Sie setzt eher auf Banalisierung des Mythos oder vielleicht auch auf seine Transponierung in Wahnvorstellungen. Auf der Bühne – ein sich perspektivisch verengender schlauchartiger Raum mit einer Vielzahl von Türen, der vielleicht auf das Hospiz des Marquis de Sade zu Charenton verweisen soll – agiert in der Rolle der Elektra ein ausgeflipptes Unterschichtengirl, das sich seinen Rachephantasien hingibt. Schwester Chrysothemis, die sich so sehr „ein Weiberschicksal“ wünscht, kommt als eine Art Heilige im weißen Gewande daher. Mutter Klytämnestra, die nach dem Mord an Agamemnon angeblich unter Wahnvorstellungen leidet, wirkt keineswegs angekränkelt, sondern mimt  in ihrem blauen Mantel über rotem Kleid eher eine gefallene Madonna. Bruder Orest, wenn er mit einem Mal  aus  graublauem Nebel auftaucht, könnte direkt den Obsessionen und Wahnvorstellungen der Elektra entsprungen sein. Und Elektras befreienden Tanz, „dieses bacchantische Mittel ihrer Katharsis“, wie es im Programmheft heißt, diesen Tanz führt eine afrikanisch-brasilianische Tanzgruppe vor, und Elektra und alle Hausgenossen des Hospiz ergehen sich in spastischen Bewegungen. Eine finale Wahnvorstellung der Protagonistin? Eine Rücknahme der Ernsthaftigkeit, mit der die Regie den Mythos erzählt? Ich weiß es nicht. Zürichs Elektra hat mich weder musikalisch noch szenisch überzeugt. Wir sahen die Vorstellung am 31. Januar 2010.

Pater Dolorosus oder vom Schmerz des Präses der Landeskirche, von seinem biederen Söhnchen, dem Vikar, und von der Multikulti-Utopie. Ein heterogenes Idomeneo Spektakel im Haus für Mozart

In Salzburg hatte man es wieder einmal gut gemeint oder auch nicht weiter nachgedacht und statt eine herau sragende Inszenierung wie zum Beispiel den Stuttgarter  Idomeneo zu übernehmen, hat man eine  Produktion vom Festival d’Aix-en-Provence eingekauft. Und die Folgen sind fatal. Zwar sind Marc Minkowski und seine Musiciens du Louvre Grenoble und ein Sänger wie Richard  Croft in der Titelrolle Garanten für musikalische Hochkultur. Doch wenn neben ihnen, um es vorsichtig zu sagen, durchweg nur schnödes Mittelmass agiert und werkelt, können auch sie den Abend nur schwerlich retten. Ich versage mir jede Kritik an den Sängern. Doch zu Salzburger Hochpreisen darf man eigentlich ein homogenes Ensemble erstklassiger Sänger erwarten. Selbst Maestro Minkowski, der mich so viele Male in Salzburg und nicht nur dort begeistert hat, wirkte an diesem Abend manchmal etwas müd und matt. Angesichts des Bühnenspektakels, das er aus nächster Nähe ertragen musste, ist das nur auch verständlich. Eine Ausstattung, die vielleicht auf der Freilichtbühne in Aix Eindruck gemacht hatte, zwängte man auf die relativ kleine Bühne im Haus für Mozart, eine Ausstattung, die mit ihren Flugsteigbrücken und ihrem Aluminiumgestänge an die Warteräume eines Flughafens erinnerte und die zugleich mit ihren kleinen weißen Häusern im Bühnenhintergrund wohl eine mediterrane Stadt evozieren sollte. Ja, richtig, die Geschichte vom Kreterkönig Idomeneo und seinem fatalen Gelübde, das ihn zwingt, seinen eigenen Sohn dem Gott Neptun zu opfern, spielt ja im östlichen Mittelmeerraum. Und deswegen die weißen Spielzeughäuschen. Ja richtig, der Mythos lebt nur in seinen Varianten, wenn möglich in aktuellen Verkleidungen, und so erklären sich das Flughafenambiente und die Reduzierung der beiden Protagonisten zu protestantischen Gutmenschpfarrern. Und wenn wir schon mal bei der Reduzierung und Banalisierung des Mythos sind, dann bietet es sich ja geradezu an, aus den trojanischen Gefangenen des Libretto orientalische und afrikanische Asylanten zu machen, die zur Ouvertüre in den Katakomben des Flughafens von einer schwarz uniformierten Truppe drangsaliert werden und die der junge Theologe Idamante rettet, zumal sich praktischerweise sein Gutmenschentum mit seiner Verliebtheit in die Geheimnisse des Orients paart: das Objekt der Begierde (im Libretto die trojanische Prinzessin Ilia) hat sich unter den kundigen Händen des Maskenbildners in eine arabisch-somalische Prinzessin verwandelt. Warum diese die Berufskleidung einer Flugbegleiterin trägt und erst im Finale ihre landestypische Kleidung anlegt, ist mir unerfindlich. Man mag das Regiekonzept: die Verquickung der Passionen zweier Synodalen mit der Asylantenproblematik für eine abwegige Aktualisierung einer opera seria halten. Doch Konsequenz kann man ihr nicht absprechen, ja wenn sie nur darauf verzichtet hätte, eine Neptunfigur wie aus einem Kindermärchen ständig durch die Szene geistern zu lassen. Ein Einfall, der das wohl ernsthaft gemeinte Grundkonzept unfreiwillig (?) karikiert. Natürlich kann man – mit ein bisschen Wohlwollen – die herumgeisternde Neptunfigur auch als ein Hirngespinst des verzweifelten Idomeneo sehen und damit, wenn es denn sein soll, unserem Regieteam psychologisches Interesse an der Hauptfigur bescheinigen. Wie dem auch sei. In Begeisterung hat mich dieses Salzburger Spektakel kaum versetzt. Es war eher ein trister, ein enttäuschender Abend im Haus für Mozart: Sängerdarsteller, die in einem kitschigen Glitzerspektakel  ihr Bestes gaben, Tänzer, die im Finale noch einmal die ganze Geschichte in ihre Kunst umsetzten und die uns damit immerhin das Vergnügen bereiteten, die sonst so gern gestrichene Ballettmusik zu hören. Man munkelte in Salzburg, dass Maestro Minkowski auf der Ballettmusik bestanden habe und dafür dem Regisseur die Besetzung der Rolle des Idamante mit einem Tenor zugestanden habe. Mag ja sein. In jedem Fall erspare ich mir im nächsten Jahr einen Opernbesuch beim Januar Festival. Auf dem Programm steht eine konzertante Zauberflöte. Wir sahen die Vorstellung am 22. Januar 2010.

Weltstars im Opernmuseum. Jürgen Rose inszeniert und bebildert Don Carlo in der Bayerischen Staatsoper

Den Don Carlo hatte ich vor gut dreiJahren schon mal in München gesehen – und fand ihn schrecklich. Doch wenn Stars wie die Harteros und Keenlyside  in München auf der Bühne stehen, da muß man halt  zur Kompensation Herrn Roses Arbeiten in Kauf nehmen. Ja, wenn man sich auf eine historisierende Aufführung im Stil des 19. Jahrhunderts, im Stil der französischen großen Oper einlassen mag, dann ist das, was Rose präsentiert,   sehr schön,  sehr grandios, sehr  einfältig. Keine Spur von Ironie, von Distanz gegenüber einem so abgegriffenen Sujet, dieser kolportagehaften Mischung aus Liebe, Leidenschaft, Eifersucht, Freundschaft, Staatsaktion, Antiklerikalismus und katholischem Spanien. Rose lässt kein Klischee der España Sagrada aus, und alles ist so, wie es sich ein progressiver Protestant, der seinen Schiller noch von der Schule her kennt, vorgestellt hat: die  allmächtige Inquisition, verkörpert in der Person des greisen, blinden Kardinals und Großinquisitors, vor dem selbst der König zittert,  die  Ketzerverbrennungen als öffentliches Spektakel – garniert mit den Bilderwagen, den „pasos“ aus der „Semana Santa“ in Sevilla, die Vernichtung jeglichen Ansatzes einer España liberal durch das  ideologische Gewaltmonopol der Kirche, die spanischen Kostüme, die unterdrückte Sexualität, die Zurbarán und Valdés Leal Bilder, deren düstere Farben die Lichtregie den ganzen Abend über zitiert, das Zurbarán Bildzitat schon auf dem Zwischenvorhang, das riesige Kreuz als Dauerrequisit. Das landläufige Opernpublikum ist  begeistert. Ich finde es schrecklich. Was hätte man daraus mit nur einem bisschen Aktualisierung doch alles machen können. Statt dessen  präsentiert sich München   als Opernmuseum. Diese musealen altbackenen Opernaufführungen, an denen sich wie hier im Fall des Don Carlo ein Theatermann, der seit einem halben Jahrhundert im Geschäft ist, noch einmal so richtig austoben kann, sind eigentlich der Tod der Gattung. Aber das Publikum mag’s halt. Metropolitan Opera Stil in München. Antiquiertes Dekorationstheater. Wir sahen die Aufführung am 17. Januar 2010.

Was Dich langweilig macht, ist, dass Du nicht enden kannst. Christoph Marthaler und Offenbachs La Grande-Duchesse de Gérolstein im Theater Basel

Eine Kultinszenierung, so raunen die Feuilletons, ist in Basel zu besichtigen. Basels Alt68er sind allesamt im Publikum, Basels Schauspieler sind da, ein renommierter Opernregisseur ist extra aus Zürich angereist, das Haus ist – anders als bei Wagner – ausverkauft. Die Presse jubelt. Der kauzige  Herr Marthaler hat halt seine Fangemeinde, die in dem Schwyzer  wohl so eine Art Wiedergänger des seligen Dürenmatt sieht. Und wir im Publikum werden – im ersten Akt – auch nicht enttäuscht. Unser Theatermann hat eine ganze Menge Gags aus seiner Kiste geholt. Die ersten zehn Minuten spielen wir sozusagen zur Einstimmung auf der Doppelstockbühne – unten zwei Boutiquen, oben so eine Art Hotellobby, die sich über zwei Etagen erstreckt – da spielen wir erstmal ein bisschen Pantomime. So lernt das Publikum die Mitspieler halt schneller kennen: eine tollpatschige Kellnerin, die ständig den Prosecco verschüttet, einen senilen General nebst mannstoller Gefährtin, allerlei Herren im Frack, den Chor des Basler Theaters, der sich dieses Mal als Ballbesucher aus dem 19. Jahrhundert verkleidet hat. Dank des senilen Generals, der ständig einschläft, wissen wir Zuschauer inzwischen, dass heute Abend wohl eine Militärklamotte gegeben wird. Kein Zweifel ist mehr möglich, als das Orchester im Military Look einmarschiert, und der Dirigent sich als schneidiger Operettenoffizier der eidgenössischen Armee präsentiert. Das ist alles unglaublich lustig, und mein Sitznachbar – Typus arbeitsloser Schauspiel mit zahlender Gefährtin – konnte sich auch den ganzen Abend über vor lauter Husten, Lachen und sich auf die Schenkel Klopfen nicht mehr beruhigen. Zur Inszenierung gehörte indes nicht, zumindest teilte dies der beflissene Abendspielleiter dem Publikum mit, dass die Hauptdarstellerin an Magen- und Darmverstimmungen litte und ihre ganze Familie noch dazu (so genau wollten wir das eigentlich nicht wissen). Ich habe da meine Zweifel, ob die Geschichte vom grotesken Leib der Großherzogin nicht doch schon der einleitende Inszenierungsgag war. Wie dem auch sei. In jedem Fall ließ die Inszenierung in der ersten Stunde keinen Gag aus und bereitete doch das Publikum so langsam auf die Marthalsche existentielle Langeweile vor, das bekannte Markenzeichen des berühmten Theaterdirektors. Als die Gefährtin des Generals, der übrigens als Einlage bei jedem lauten Akkord „Der Feind“ winselte, zum ich weiß nicht wievielten Male Turnübungen (vermutlich Sexübungen) mit dessen Adjutanten  veranstaltet hatte, dieser der Kellnerin zum sechsten Male das Schürzchen aufgemacht, dem Rekruten Fritz, den die Großherzogin zum General befördert hatte, zum vierten Male das Käppi aufgesetzt worden war, das Orchester den Rückzug angetreten hatte, ein Pianist in der linken oberen Bühnenecke ein Pianoforte mit Wagner, Händel und Bach zu malträtieren begann, da schwante mir Schlimmes. Die Lust, so dozierte da mit erhobenem Zeigefinger Theatermacher Marthaler, die Lust, liebe Brüder und Schwestern im Herrn, die Lust, und sei es sie auch nur der Versuch einer Offenbachiade, ist für uns Puritaner Sünde. Und Rettung bringen allein die Musiker aus Sachsen. Aber auch an die glauben wir nicht mehr so richtig. Uns Spätgeborenen bleibt nur die schwachbrüstige Parodie. Und die zelebrieren wir jetzt und wenn es denn sein muss eine ganze Stunde lang. Und damit Ihr Ignoranten im Publikum – Euch konnte ich schon in meiner Zürcher Zeit nicht ausstehen –  nicht einschlaft, gebe ich Euch noch was zum Gucken. Zu unserem Bach und Händel Gesäusel wird Euch eine unserer Damen ein paar Turnübungen am Treppengeländer vormachen. – Welch schöner Marthaler Abend im Basler Opernhaus. Die Intellektuellen wissen noch von Kracauer, dass Offenbach die französische Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs parodiert hat, und sie freuen sich daran, wie ihnen Marthaler die Parodie der Parodie serviert. Die eher Unbedarften, die haben halt ihren Spaß an den Gags aus der Klamottenkiste, und sie verstehen nicht so recht, warum sie diesen Bach, den sie zu Weihnachten doch schon in der Kirche gehört haben, jetzt auch noch in der Operette hören sollen – und dann auch noch dazu so leise und grottenschlecht. Seid außer Sorg. Im Wirtshaus gegenüber hat gerade die alemannische Fastnacht begonnen. Auch die gehört zur Inszenierung? Vielleicht. Ach, wie schön ist doch die Operettenseligkeit bei  Pastor Marthaler. Wir sahen die Aufführung am 16. Januar 2010. Die Premiere war am 20. Dezember 2009.

Im Panoptikum der Bilder und Figuren. Stefan Herheim inszeniert den Rosenkavalier in der Staatsoper Stuttgart

Wer zu Herheim geht, der weiß von vornherein, dass ihn ein großes Spektakel erwartet, dass Komponist und Librettist  nur noch die Stichwortgeber sind für die alles überbordende Phantasie eines hoch begabten Theatermachers, mit der er auch die bekanntesten Stücke des Repertoires zum Gaudi oder auch zum Entsetzen des Publikums neu erzählt. Die Kehrseite der Medaille ist, dass in Herheims Operninszenierungen Musik und Gesang Gefahr laufen, zur quantité negligeable zu werden, zum Soundtrack zu verkommen drohen. So geschah es vor ein paar Jahren in Salzburg der Entführung aus dem Serail und im vergangenen Jahr dem Lohengrin in der Staatsoper unter den Linden. Und so geschah es jetzt dem Rosenkavalier in Stuttgart. Ohne Zweifel wurde durchweg auf hohem Niveau gesungen und musiziert. Doch angesichts des großen Spektakels, das sich  da auf der Bühne ereignete,  fiel der musikalische Part nicht weiter auf. So fragte sich denn am Ende eines höchst unterhaltsamen Theaterabends  die Opernbesucherin, die sich ganz in die Rolle des Voyeurs gedrängt sah, ob da nun eine „Komödie für Musik“ geboten wurde oder ob das Ganze „halt eine Farce [war] und weiter nichts“. Ich glaube, es war weder das eine noch das andere. Was wir in Stuttgart erlebten, das war  – wie zu erwarten – ein großer Stefan Herheim Abend – und weiter nichts, ein Fest des Theaters, in dem sich barocker und akademischer Malerei des 19. Jahrhunderts entsprungene Silen und Satyrn, Rokokoporzellanfiguren, Strauss Karikaturen, Personen aus der Commedia dell’arte, Karnevalstypen aus Venedig, ein leibhaftiger Lohengrin, Kindersoldaten aus der K. und K. Monarchie, eine Madonna im Strahlenkranz und wer weiß was noch für Personal  tummelten. Wie unser Theatermacher in Berlin dem Lohengrin alles Romantische ausgetrieben hatte, so nimmt er jetzt in Stuttgart  dem Rosenkavalier alles Sentimentale und alle Süßlichkeit und setzt auch hier wie schon in Berlin auf die Karnevalisierung des Geschehens: auf Komik, Groteske und Gelächter und hin und wieder, wenn ihn die Lust am Karneval verlässt, auch auf Nachdenklichkeit und vielleicht auch auf einen Gran Betroffenheit. So wird aus der Mär von der ach so entsagungsvollen, ach so großherzigen Dame von Welt, die in konventionellen Inszenierungen die sentimentalen Kühe im Publikum schon im Finale des ersten Akts zu Tränen rührt, ein Satyrspiel um die verdrängten sexuellen Gelüste und Sehnsüchte einer etwas überreifen Dame. Und dies auch im ganz konkreten Sinne. Noch vor der Ouvertüre sieht der Zuschauer eine Marschallin, die den Spiegel zerschlägt und in einem ganz konkreten Wolkenkuckucksheim  bei dichtem Theaternebel von leibhaftigen Satyrn bedrängt wird und die ein höchst androgyner, schmächtiger Oktavian, der wie ein zu klein geratener Sankt Michael oder wie ein zu groß geratener Eros Knabe aus der Höhe herabfährt, nur mühsam vertreiben kann. Und wenn dann schließlich Marschallin und Oktavian ihr Liebespiel beginnen, dann schaut ein Satyr von einem Prospekt,  eine Art Collage aus Nymphen und Faun (so genau kann man das nicht erkennen), breit grinsend herab: und alle (Woll)lust will Ewigkeit, und das Satyrspiel geht weiter. Mit einer ganzen Horde von Satyrn schneit der Baron  Ochs auf Lerchenau  herein und wenn er dann im zweiten Akt zum Liebesspiel mit der Duenna die Perücke abnimmt, dann trägt auch er die Hörner des Satyrs. Dass der Ochs zum Satyr wird, das ist nicht unbedingt originell – das Liebestolle oder meinetwegen das Geile ist ja in der Rolle schon angelegt. Originell ist indes, wie diese Anlage in aller Deutlichkeit in Szene gesetzt wird. Wenn der Ochs von seinen Eroberungen unter den Landmädchen erzählt, („Wollt  ich könnt  sein wie Jupiter selig / in tausend Gestalten, /wär Verwendung für jede“) dann springt er auf das Bett der Marschallin und sucht diese und ihre angebliche Kammerzofe gleichzeitig  handgreiflich  zu ‚erobern’. Mögen die Lerchenauer und ihr Anführer in ihrer Rolle als Satyrn dem Fundus der Museen entsprungen sein, so reiht sich der Graf Octavian in seiner Schmächtigkeit und in seinem Rokokokostüm in die  Welt der Porzellanfiguren ein, wie sie in so mach einem Schlösschen aus galanter Zeit zu bewundern sind. Mag sein, dass er ähnlich wie die Satyrn nur in den erotischen und wollüstigen  Träumereien  der Marschallin existiert. Und Sophie? In ihrem ganzen Outfit ist sie als die Jungmädchenausgabe der Marschallin angelegt. Und jetzt könnten, wenn sie denn wollten, die alten Damen und die müden Greise im Publikum mit einem Male verstehen, was Oktavian in der Begegnung mit Sophie geschieht: er ist nicht untreu oder gar flatterhaft. Er ist verliebt in das Idealbild seiner Marschallin und glaubt es in der jungen Sophie gefunden zu haben. Ereignet sich die Begegnung des neuen Paars  in einem geradezu kammerspielartigen Ambiente, geraten die Szenen mit Ochs und seiner Entourage zum großen Karnevalsfest – vor einer nur eben angedeuteten venezianischen Kulisse. Da erscheinen die Masken, die Harlekine, der Vogel Strauss(!), und selbst die Marschallin mischt sich unter die Ausgelassenen, ja und die sonst so keusche Duenna, die „Jungfer Marianne“, mutiert zur kleinen Femme fatale, die sich an den Ochs heranmacht. Und jetzt verstehen wir im Publikum auch, dass ein von all diesem lustvollen Treiben erschöpfter Ochs, ein trunkener Silen, dem Wein und Weib zu Kopf gestiegen sind, auf dem großen Himmelbett einschläft und zum Rendez-vous mit Mariandel/Oktavian aus Schlaf und Bett gezogen werden muss und schlaftrunken, wie er ist, gar nicht mitkriegt, was ihm angetan wird. Auch im dritten Akt, der in den konventionellen Inszenierungen sich in albernen Gags und Sentimentalitäten erschöpft, weiß Herheim sein Publikum noch zu verblüffen. Da fährt die edle Marschallin als Karikatur der Jungfrau Maria im Strahlenkranz vom Bühnenhimmel herab, da versinkt das neue Traumpaar – getrennt voneinander – im Nebel in der Unterbühne, da darf der dickleibige Faninal sein abschließendes Sprüchlein – „Sein schon aso, die jungen Leut!“ – aus einer Loge im ersten Rang aufsagen, und die Marschallin antwortet ihm von der gegenüber liegenden. Ein hübscher Metatheatergag: die  scheinbar so hoch gesinnten Theaterfiguren – jetzt in Alltagskleidung  – denken und schwatzen genau so banal wie das durchschnittliche Publikum. Die Antwort gibt in einer Pantomime der Satyr: er zerbeißt und verschluckt die silberne Rose, die doch nur ein billiges Glasprodukt, Glitzerzeug, war und verendet zum Ende des Spektakels. „Alle Lust will Ewigkeit“? Nein, alle Lust ist zu Ende. In Stuttgart – um es noch einmal zu sagen – ist ein grandioser Rosenkavalier zu sehen, ein Rosenkavalier indes, bei dem der musikalische Part ganz im Schatten der Inszenierung steht, ein Rosenkavalier, bei dem Richard Strauss letztlich zur Unperson, zur Karikatur wird. Nicht von ungefähr schlägt in einer Schlüsselszene im dritten Akt ein genervter Ochs  so lange auf den Vogel Strauss ein, der da hilflos auf der Bühne herumsteht, bis dieser zusammensinkt. In Berlin hatte Theatermacher Herheim mit seinem Lohengrin den kleinen Sachsen erledigt. In Stuttgart war der kleine Bayer an der Reihe. Prima la messa in scena, e poi…?  Wir sahen die Aufführung vom 10. Januar 2010, die 9. Vorstellung nach der Premiere am 1. November 2009.

Die Schmerzensmadonna der romantischen Liebe – eine höchst brillante Lucia di Lammermoor in der Staatsoper Stuttgart

Olga Motta, die für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet, hat sich wie schon vor ein paar Jahren bei ihrem Lucio Silla auch jetzt bei der Lucia für eine manieristische Grundkonzeption entschieden. Manieristisch in dem Sinne, dass auf jedwede Referenz auf eine wie auch immer geartete Wirklichkeit verzichtet wird und alles Geschehen sich in einer Welt des Traums und der Bildzitate ereignet. Über dieses Konzept wird der Zuschauer von Anfang an nicht im Zweifel gelassen. Die offene sich perspektivisch erweiternde Bühne  ist in bläuliches Licht gehüllt: die traditionelle romantische Farbe des Traums und der Illusion. Im Hintergrund leuchtet eine Art Mondscheibe, die immer wieder changiert und mal an ein Weltraumbild der Erde erinnert, mal Caspar David Friedrichs Fliegende Eule vor dem Mond evoziert. Edgardo scheint in seinem schwarzen Biedermeierkostüm geradezu Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer nachgestaltet zu sein. Lucia kriecht zu ihrem ersten Auftritt aus dem Sockel einer Schmerzensmadonna. Die Signale an die Zuschauer sind schon überdeutlich: ein Liebender, der von all dem, was ihm geschieht nichts begreift, der gleichsam im Nebel herumstochert, eine Liebende, die von Anfang an zum Leiden und zum Tode verurteilt ist. Die Regie nutzt die Bildzitate immer wieder für symbolische Gesten, für Gesten, die das jeweilige Geschehen verdichten und konzentrieren. Wenn der Bruder von Lucia verlangt, sie solle sich für die Familie aufopfern, dann agieren die Figuren vor einem  Altarbild, und die in ihrem Leiden verspottete Lucia steht gleichsam als Heilige in der Imitatio des sich aufopfernden  Christus. Ich muss gestehen, dass ich das Bild, das in dieser Szene zitiert wird: Fra Angelico: Die Verhöhnung Christi nur mit Hilfe des Programmhefts erkannt habe. Und das gleiche gilt auch für das Motiv der roten Stöcke. Wenn die Hochzeitsgesellschaft mit langen roten Stöcken herumfuchtelt, den Hochzeitstisch mit diesen Stöcken durchbohrt, die jetzt blutrot gewordenen Tischtücher zusammenlegt, dann sind die freudianischen Assoziationen, mit denen Lucias Hochzeitsnacht mit- und nachgespielt wird, mehr als überdeterminiert. Doch dass das Motiv der Stöcke ein Bildzitat aus einem Kriegsgemälde von Paolo Uccello ist und damit gleichsam als Dingsymbol auf den Streit zwischen der verfeindeten Familien verweist, das erschließt sich für mich wiederum nur mit Hilfe des Programmhefts. So mag es noch  manch anderes Bildzitat geben, das mir entgangen ist. Aber eigentlich ist das gar nicht so wichtig. Das Vergnügen war auch ohne zusätzlichen Erkenntnisgewinn schon groß genug. Die Inszenierung mit ihrer Fülle der Bildzitate, dem albtraumhaften Biedermeierambiente, das sie evoziert, mit ihrer Stilisierung der Protagonistin zur Heiligen der ‚Liebe als Passion’ ist zweifellos brillant und beeindruckend. Doch noch beeindruckender ist das Ensemble, das in Stuttgart auf der Bühne singt und agiert. Phantastisch, grandios wird in den großen Rollen  gesungen und gespielt. Doch Ana Durlovski in der Titelrolle übertrifft in Spiel und Gesang und nicht zuletzt auch als Bühnenerscheinung noch einmal alle anderen Mitwirkenden. Es mag ja sein, dass in Zürich noch eine bessere Belcanto Sängerin zu hören ist. Doch in ihrem hingebungsvollen Spiel, in ihrer anrührenden Erscheinung, in ihrer Gestaltung des sich immer mehr steigernden Wahns, da ist die Stuttgarter Lucia wohl kaum zu übertreffen. – Wir sahen die Vorstellung am 9. Januar 2010. Es war die neunte Aufführung seit der Premiere am 3. Oktober 2009.