Besser, schöner, vollendeter lässt sich Monteverdi wohl nicht singen. Dies bleibt an einem frühsommerlichen Abend in Madrid als Eindruck haften, wenn man Stars wie Danielle de Niese als Poppea, Philippe Jaroussky als Nerone und Anna Bonitatibus als Ottavia gehört hat. War es Zufall oder Absicht, dass in dieser Madrider Poppea, einer Koproduktion „con el Teatro La Fenice de Venecia“, ausschließlich die Stimmen im Zentrum des Interesses standen? Wenn es Absicht war, dann war sie erfolgreich – oder sie ergab sich zwangsläufig. Vom Orchester, von den hochrangigen Spezialisten für alte Musik, Les Arts Florissants, die unter der Leitung von William Christie musizierten, war in dem großen Madrider Haus kaum etwas zu hören – das mehr als bekannte Problem aller historischen Aufführungspraxis. In den weiträumigen Musiktheatern des 19. Jahrhunderts verliert sich eine Musik, die für Intimität, für eine höfische Festgesellschaft und für kleinere Säle gedacht war, als ‚ferner Klang’ (es sei denn, man sitzt in den ersten Reihen des Parketts). Kein Zweifel, dass ein Routinier wie Maestro Christie sich dieses Problems bewusst ist und wohl aus der Not eine Tugend gemacht hat und deswegen, eben um den Stimmen nur allen denkbaren Raum zur Entfaltung zu bieten, seine Instrumentalisten gleich noch mehr zurücknahm. Auch Pier Luigi Pizzi, einer der berühmt-berüchtigten Altmeister des antiquierten Dekorationstheaters, der für den gesamten außermusikalischen Part verantwortlich zeichnet, war nicht minder sängerfreundlich eingestellt und verzichtete von vornherein darauf, seine Sänger als Schauspieler zu fordern. Sie dürfen in weißen, schwarzen oder auch Gold glitzernden Gewändern vor Säulenhallen in meist dämmerig-silbernem Licht hoheitsvoll schreiten, auch in hoch emotionalen Szenen nur wenig Emotion zeigen, und vor allem dürfen sie durchweg von der Rampe singen. Mit anderen Worten: in Madrid ist klassisches französisches Theater zu besichtigen – mit dem einzigen Unterschied, dass nicht eine hoch stilisierte Bühnensprache, sondern ein hoch stilisierter rezitativer Gesang Träger des Geschehens ist. Dass bei dieser Konzeption die komödiantischen Szenen (klassisch: das Satyrspiel zur Tragödie) wie Fremdkörper, mit denen die Regie wenig anzufangen wusste, wirkten, verwundert dann nicht mehr. Von den komödiantischen Szenen, die durchweg unbeholfen, um nicht zu sagen peinlich wirkten, ist einzig die Nerone-Lucano Szene gelungen. Hier hat sich die Regie wohl der Technik der Personenregie erinnert und im Wettstreit mit und in Ergänzung zum Gesang über die Körpersprache der Akteure die Bisexualität Nerones geradezu plakativ herausstellt. Das war aber auch die einzige Kühnheit, die sich die Altmeister Pizzi erlaubte. Ansonsten auf der Szene nichts von Sex und Crime, nichts von verruchten Ambitionen und rachsüchtiger Leidenschaft und schon gar nichts von Karneval, kaum etwas von dem, was das Libretto erzählt. Mit einem Wort: auf der Szene edle, sublime Langeweile, eben klassisches französisches Theater in antiquierter Aufführungspraxis. Doch Monteverdi-Stimmen und Monteverdi-Gesang in höchster, in manieristischer Vollendung. Nach Madrid fährt man nicht wegen der Oper – aber bei dieser fulminanten Besetzung vielleicht doch. Wir sahen die Premiere am 16. Mai. In diesem Monat wird Poppea noch achtmal aufgeführt.
Von Träumen und Utopien und vom Belcanto. Christof Loy inszeniert La Donna del Lago am Grand Théâtre in Genf
Von Träumen und Utopien und vom Belcanto. Und alles ist doch nur ein Spiel. Christof Loy inszeniert La Donna del Lago am Grand Théâtre in Genf
In den Opernhäusern Italiens wird angeblich gerade der Schwanengesang auf die Oper angestimmt. Und wenn man den düsteren Nachrichten von der italienischen Opernszene glaubt, wie sie in diesen Tagen in der Presse zu lesen sind, dann macht eine Regierung von ach so schrecklichen Banausen der ach so ehrwürdigen Gattung Oper und ihren ach so sehr bemühten Interpreten gerade den Garaus. Doch was kümmert den Opernfan schon die heutige (durchweg dürftige) italienische Opernszene. Er tut gut daran, sich an die mehr nördlich gelegenen Musiktheater zu halten. Im Grand Théâtre in Genf, der Stadt der (einstens) so lustfeindlichen Kalvinisten, ist von einer Krise der Oper nicht die Rede. Dort hat man die Lust am Musiktheater nicht verloren. Hier fehlt es nicht am Geld, um internationale Stars der Opernszene zu engagieren. Hier genießt ein begeistertes Publikum Rossinis Belcanto Opera, feiert eine mehr als brillante Joyce Didonato als Primadonna und freut sich an einer theaterseligen, behutsam das Geschehen ironisierenden Inszenierung. Sich für den Melodienreichtum zu begeistern, der La Donna del Lago auszeichnet, das fällt in der Tat nicht schwer. Bei all diesem Raffinement weiß die Dilettantin manchmal nicht mehr, ob sie nun bei Rossini, Bellini oder Donizetti ist. Aber das ist fürs Zuhören auch nicht so wichtig. Ich habe La Donna del Lago zum ersten Mal gehört, und ich bin begeistert, und mit meiner Begeisterung bin ich nicht in schlechter Gesellschaft. Dass Stendhal ein großer Rossini Verehrer war, ist ein Gemeinplatz der Operngeschichte. Dass aber auch dem so sehr in den ‚Weltschmerz’ verliebten Leopardi die Musik der Donna del Lago gefiel, das war mir neu: „[ la musique[…] est une chose magnifique; j’aurais pu moi-même pleurer, si le don des larmes ne m’avait pas été temporairement enlevé…]“ (vgl. Programmheft. S. 46). Warum Rossinis Musik schon die Zeitgenossen so fasziniert hat, das wissen die Musikhistoriker zu sagen. Als Dilettantin kann ich mich mit dem ästhetischen Vergnügen – begnügen. Vielleicht nur eine Bemerkung: ich kam in Genf ein paar Minuten zu spät, wurde von umsichtigen freundlichen Schließern noch schnell in eine Loge gedrängt und hörte als erstes die Auftrittsarie der Elena, der donna del lago: „O mattutini albori…“, und sofort begriff ich, was Belcanto in höchster Vollendung sein kann: „una musica celeste“. Doch lassen wir die Musik und sprechen wir noch ein wenig von der Inszenierung. Auch in Genf sind Loys Markenzeichen, sein persönlicher Stil, sofort zu erkennen. Formelhaft gesagt: Minimalismus, Metatheater, behutsame Aktualisierung, perfekte Personenregie. Wer das Libretto nur flüchtig kennt, der hat zumindest am Anfang gewisse Schwierigkeiten, dem Handlungsverlauf zu folgen und glaubt sich – und wie sich herausstellt zu Recht – in einer Melange aus Lucia, Cenerentola und Theaterprobe in einem protestantischen Gemeindesaal mit kleiner Bühne für die Laienspielschar. Die Laienspielgruppe der Gemeinde probt offensichtlich mit ihren bescheidenen szenischen Mitteln Walter Scotts Donna del Lago. Doch Elena, in ihrem bräunlichen Mäntelchen, mit ihrer grauen Perücke und dem braunen Käppchen, offensichtlich das Aschenbrödel der Gemeinde, steht abseits, bleibt allein zurück, steigt auf die Bühne und erschafft sich in ihrer Imagination ihre Welt, eine Welt, die sich aus Klischees der romantischen Literatur zusammensetzt: den schönen Jüngling, der sich in den Wäldern verirrt hat, den sie als eine neue Undine oder Rusalka über den See rudert und dem sie im Haus ihres Vaters Zuflucht gewährt, den herrschsüchtigen Vater, der die Tochter an einen ungeliebten Clanchef verheiraten will, das alter Ego (die lesbische Freundin?, den Schutzengel ?), das ihr in der Not beisteht, den schönen Jüngling, der als Prinz im Schwanensee wiederkehrt, leidenschaftlich um sie wirbt und den Rivalen erledigt. Und im Finale, da gehen Elenas Traumwelt und die Theaterwelt der Spielschar ineinander über: das Aschenbrödel kriegt den Prinzen, die vermeintliche Außenseiterin spielt die Hauptrolle und kriegt den Hauptdarsteller. Alles ist nur ein Spiel, ein Spiel der Illusionen und der Träume, alles ist nur eine schöne Utopie, eine Theaterwelt fern aller realen Welt. Eine scheinbar einfache und doch zugleich eine brillante und überzeugende und noch dazu eine unterhaltsame Inszenierung. In den Musiktheatern, so liest man im Programmheft, wird La Donna del Lago nur sehr selten in Szene gesetzt. Wie seltsam. Wie schade. In Genf ist sie am 14. und am 17. Mai noch zu sehen. Wir sahen die Vorstellung am 7. Mai. Die Premiere war am 5. Mai.
Nachtrag vom 18. August 2012
Das Theater an der Wien hat die Loy-Inszenierung der Donna del Lago aus Genf übernommen. Auch in Wien waren wir begeistert. Ein glanzvoller Belcanto Abend. Eine anspruchsvolle Inszenierung. Leider sang in Wien nicht Joyce Didonato. Und leider glaubten nach dem ersten Akt einige Zuschauer die Inszenierung (oder meinten sie die Sänger?) ausbuhen zu müssen. Eine peinliche Reaktion.
Im Irrenhaus mit Hitchcock. Emilia di Liverpool am Staatstheater Nürnberg
In Nürnberg hat man einen frühen Donizetti ausgegraben, ein dramma semi-serio vom Jahre 1824 – und die Belcanto Fans kommen zumindest teilweise auf ihre Kosten. Zwar ist Emilia bei weitem noch keine Lucia oder eine Norina. Aber bei der Mischung aus Buffa- und (beinahe) tragischen Szenen, die ein anonymer Librettist für den jungen Donizetti hergerichtet hat, war das auch gar nicht zu erwarten. Schön – ganz im Sinne des Belcanto – singt die Nürnberger Primadonna (Hrachuhí Bassénz) allemal und wenn dann noch dazu die Buffo Partien glänzend besetzt sind, dann sind eigentlich schon die meisten Voraussetzungen für einen vergnüglichen Donizetti Abend gegeben. Und die Inszenierung? Eine eifrige Dramaturgin muss dem Regieteam wohl souffliert haben, dass Donizettis Damen psychisch gestört seien und dass auch schon die kleine Emilia, die mit ihrem Liebhaber durchgebrannt und von diesem sitzen gelassen worden war – so die Vorgeschichte – vom Wahnsinn geschlagen sei. Leidet sie doch noch dazu an dem Trauma, mit ihrer Flucht der Mamma das Herz gebrochen zu haben. Das seien halt die Nachtseiten der Romantik (vulgo: „schwarze Romantik“), und in dieser sei das Motiv des Wahnsinns ein häufiges Motiv. Und da hat die Dramaturgin ja auch nicht so ganz Unrecht. Zum Glück für die Inszenierung hat das Regieteam nicht zu sehr auf die literarisch beschlagene Dramaturgin gehört und nicht die „schwarze Romantik“ in Szene gesetzt, sondern sich darauf besonnen, dass Donizettis Oper eine semi-seria ist und dass dem entsprechend das Motiv des Wahnsinns spielerisch, komödiantisch einzusetzen ist. So versetzt sie denn das krude Geschehen um Emilia und ihre beiden Liebhaber (der eine ist entsprungen, den anderen hat sie versetzt, und beide sind auf einmal wieder da) in ein Irrenhaus und lässt die Irrenhausärztin Personen und Handlung manipulieren. Ein Einfall, der nicht gerade originell ist (man kennt halt den Peter Weiss und seine Adepten). Aber immerhin gibt er Gelegenheit, allerlei Schabernack zu veranstalten. Da werden die Streithansels in Zwangsjacken gesteckt, da dürfen die Traumata auf der Couch erzählt werden, da klappern die Irren mit den Essgeschirren, da werden Beruhigungsspritzen verabreicht, da nimmt die Ärztin den sich Streitenden einfach die Pistolen weg und drückt ihnen Zettel mit Versöhnungssprüchen in die Hand usw. Mit dem Irrenhaus als Ort der Handlung, mit der Transformation der Figuren in Irre oder sagen wir einfacher: mit dem Komödienstadel als Grundkonzept gibt sich die Regie indes nicht zufrieden. Der Komödienstadel ist zugleich eine Art Hitchcock Film: ein einsames englisches Landhaus, Personen, die durch einen Zufall (hier durch ein Unwetter nebst Autounfall) wieder zusammentreffen und die allesamt eine Rechnung miteinander offen stehen haben und damit ein Motiv, aufeinander los zu gehen. Und wie es sich für einen solchen Film gehört, geistert der Meister hin und wieder selber durch die Szene und schaut nach dem Rechten, und die obligatorischen ‚Vögel’ fehlen auch nicht. Die geduldige Opernbesucherin, die als Donizetti Verehrerin vor allem auf die Musik neugierig ist und die sich ob des hybriden Spektakels meist amüsiert und nur selten langweilt, fragt sich indes, ob so viel szenischer Aufwand und so viel Klamauk der Musik wirklich gut tun. Wie dem auch sei. Das Staatstheater bietet einen unterhaltsamen Abend und serviert eine Musik, die man zuvor noch nie gehört hatte. Schade, dass es in Nürnberg so wenige Donizetti Verehrer gibt. Ein engagiertes Ensemble spielte vor nur schwach besetztem Hause. Wir sahen die Aufführung am 4. Mai 2010. Die Premiere, eine „deutsche Erstaufführung“, war am 27. März 2010.
Im Irrenhaus mit Hitchcock. Donizetti, Emilia di Liverpool am Staatstheater Nürnberg
Im Irrenhaus mit Hitchcock. Donizetti, Emilia di Liverpool am Staatstheater Nürnberg
In Nürnberg hat man einen frühen Donizetti ausgegraben, ein dramma semi-serio vom Jahre 1824 – und die Belcanto Fans kommen zumindest teilweise auf ihre Kosten. Zwar ist Emilia bei weitem noch keine Lucia oder eine Norina. Aber bei der Mischung aus Buffa- und (beinahe) tragischen Szenen, die ein anonymer Librettist für den jungen Donizetti hergerichtet hat, war das auch gar nicht zu erwarten. Schön – ganz im Sinne des Belcanto – singt die Nürnberger Primadonna (Hrachuhí Bassénz) allemal und wenn dann noch dazu die Buffo Partien glänzend besetzt sind, dann sind eigentlich schon die meisten Voraussetzungen für einen vergnüglichen Donizetti Abend gegeben. Und die Inszenierung? Eine eifrige Dramaturgin muss dem Regieteam wohl souffliert haben, dass Donizettis Damen psychisch gestört seien und dass auch schon die kleine Emilia, die mit ihrem Liebhaber durchgebrannt und von diesem sitzen gelassen worden war – so die Vorgeschichte – vom Wahnsinn geschlagen sei. Leidet sie doch noch dazu an dem Trauma, mit ihrer Flucht der Mamma das Herz gebrochen zu haben. Das seien halt die Nachtseiten der Romantik (vulgo: „schwarze Romantik“), und in dieser sei das Motiv des Wahnsinns ein häufiges Motiv. Und da hat die Dramaturgin ja auch nicht so ganz Unrecht. Zum Glück für die Inszenierung hat das Regieteam nicht zu sehr auf die literarisch beschlagene Dramaturgin gehört und nicht die „schwarze Romantik“ in Szene gesetzt, sondern sich darauf besonnen, dass Donizettis Oper eine semi-seria ist und dass dem entsprechend das Motiv des Wahnsinns spielerisch, komödiantisch einzusetzen ist. So versetzt sie denn das krude Geschehen um Emilia und ihre beiden Liebhaber (der eine ist entsprungen, den anderen hat sie versetzt, und beide sind auf einmal wieder da) in ein Irrenhaus und lässt die Irrenhausärztin Personen und Handlung manipulieren. Ein Einfall, der nicht gerade originell ist (man kennt halt den Peter Weiss und seine Adepten). Aber immerhin gibt er Gelegenheit, allerlei Schabernack zu veranstalten. Da werden die Streithansels in Zwangsjacken gesteckt, da dürfen die Traumata auf der Couch erzählt werden, da klappern die Irren mit den Essgeschirren, da werden Beruhigungsspritzen verabreicht, da nimmt die Ärztin den sich Streitenden einfach die Pistolen weg und drückt ihnen Zettel mit Versöhnungssprüchen in die Hand usw. Mit dem Irrenhaus als Ort der Handlung, mit der Transformation der Figuren in Irre oder sagen wir einfacher: mit dem Komödienstadel als Grundkonzept gibt sich die Regie indes nicht zufrieden. Der Komödienstadel ist zugleich eine Art Hitchcock Film: ein einsames englisches Landhaus, Personen, die durch einen Zufall (hier durch ein Unwetter nebst Autounfall) wieder zusammentreffen und die allesamt eine Rechnung miteinander offen stehen haben und damit ein Motiv, aufeinander los zu gehen. Und wie es sich für einen solchen Film gehört, geistert der Meister hin und wieder selber durch die Szene und schaut nach dem Rechten, und die obligatorischen ‚Vögel’ fehlen auch nicht. Die geduldige Opernbesucherin, die als Donizetti Verehrerin vor allem auf die Musik neugierig ist und die sich ob des hybriden Spektakels meist amüsiert und nur selten langweilt, fragt sich indes, ob so viel szenischer Aufwand und so viel Klamauk der Musik wirklich gut tun. Wie dem auch sei. Das Staatstheater bietet einen unterhaltsamen Abend und serviert eine Musik, die man zuvor noch nie gehört hatte. Schade, dass es in Nürnberg so wenige Donizetti Verehrer gibt. Ein engagiertes Ensemble spielte vor nur schwach besetztem Hause. Wir sahen die Aufführung am 4. Mai 2010. Die Premiere, eine „deutsche Erstaufführung“, war am 27. März 2010.
Il ritorno di Lady Diana (e di Grace Kelly) in patria. Händels Admeto an der Oper Leipzig
Die Oper Leipzig, in der wir in der vergangenen Saison einen ungewöhnlich herausragenden Parsifal und einen ungewöhnlich dürftigen Don Giovanni gesehen haben, hat in der jetzt laufenden Saison mit Händels Admeto, Re di Tessaglia vom Jahre 1727 wieder eine High Light Produktion im Programm, eine Produktion, die das Libretto auf eine ganz neue und eine ganz überraschende Weise variiert. Hatten Händels Librettisten den Alkestis Mythos (Alkestis kann mit ihrem Tod den Gatten Admeto vor dem Tod retten und wird von Herkules aus der Unterwelt zurückgeholt) schon um eine Rivalitäten- und Eifersuchtskomödie erweitert, geht das Leipziger Produktionsteam noch einen Schritt weiter, macht aus der Admeto Oper vollends eine Soap Opera und setzt auf diese noch eine Pointe aus der Welt der Fernsehkrimis. Ort des Geschehens ist nicht mehr ein fernes unbestimmtes Thessalien, sondern der Palast der Windsors (vulgo: der Royals). König Admeto erinnert in seinem graublauen Zweireiher an einen bekannten englischen Prinzen. Königin Alkestis ist eine Mischung aus Prinzessin Diana und Grace Kelly. Der arme Admeto ist nicht mehr das Opfer einer mysteriösen Krankheit, sondern das Opfer eines Giftmordanschlags (ein Maskierter hat ihm zur Hochzeitsnacht – zur Ouvertüre – Gift in seinen Whisky geschüttet), und der Opfertod der Alkestis ist ein (als Selbstmord getarnter?) Autounfall. Und jetzt als wir das Dröhnen eines schweren Wagens aus dem Off der Bühne hören, da wissen auch die im Publikum, die in Kostüm und Maske der Alkestis noch nicht die beiden Diven wieder erkannt haben, welchen Mythos die Regie eigentlich in Szene setzen will. Auch für den tüchtigen Herkules, der in Leipzig so gar nichts von einem Helden hat, sondern eher an einen Taxifahrer mit arabischem(!) Migrationshintergrund erinnert, hat das dortige Team eine neue dramatische Funktion erfunden, die so ganz den Schemata aus Fernsehkrimi und Soap Opera entspricht: Herkules darf zwar immer noch im Kampf mit den Mächten der Unterwelt – in Leipzig sind diese die der Ahnengalerie entstiegenen einst mächtigen Könige – Alkestis befreien – und diese seltsamerweise wild abknutschen. Ein Rätsel, das sich im Finale löst. Herkules war der geheimnisvoll Maskierte, der Attentäter, der dem König zur Ouvertüre Gift in den Whisky und zum lieto fine Gift in den Wein geschüttet hat. Schade nur, schade für Herkules, dass dieses Mal auch die gute Alkestis zum Glas gegriffen hat. Herausgekriegt hat das ganze, wie es sich für eine englische Krimiserie gehört, natürlich Miss Marple (in der Oper la terza donna, ein gewisser Orindo). Und das Motiv? Natürlich Eifersucht. Der Herkules wollte halt die Alkestis, und die wollte halt nur den Admeto. Und die Folgen sind fatal, nein letal – ganz so wie wir das aus den unzähligen Dreiecksgeschichten kennen. ‚Glücklich’ sind am Ende nur der secondo uomo und die seconda donna. Sie kriegen sich und die Krone und dürfen im Schlussbild im Windsor Ornat posieren. So gibt es denn in Leipzig entgegen dem Libretto und entgegen der Musik nur ein halbes lieto fine. Doch zum Ausgleich dafür eine höchst unterhaltsam und noch dazu spannend in Szene gesetzte Version einer Händel Rarität. Und gesungen und musiziert wurde auf hohem Niveau. Und nicht nur Musik von Händel wurde geboten: als Kontrast zum alten Händel spielt auf der Szene auf „Melodica“ Instrumenten, „Blasinstrumenten aus der Gattung der Harmonicas“, das ATEF Ensemble. Welche Musik sie gespielt haben, das weiß ich nicht. Vielleicht Variationen aus Grace Kelly Filmen, gemischt mit Soundtracks aus Kriminalfilmen? Ich weiß es nicht. Und das Männerquintett musizierte nicht nur. Es spielte gleich mit und mimte mal die schrecklichen Mediziner am Krankenbett des Admeto, mal die Todesboten für Alkestis, mal Draculas aus der Ahnengalerie, mal die lustigen Säufer auf dem Müllkippe, mal die Köche und Kellner bei des Königs letztem Mahle. Zur Tragödie und zur Komödie, zur Soap Opera und zum Krimi gehört halt auch die Groteske. Und wohl auch das Satyrspiel.
Die Leipziger Oper ist wieder eine Reise wert. Und wenn dann wie am letzten Wochenende am nächsten Abend das Gewandhausorchester zusammen mit erstklassigen Solisten Das Rheingold (konzertant) aufführt? Ja, dann gilt erst recht: Leipzig ist eine Reise wert. Wir sahen die Vorstellung am 23. April 2010, die dritte Aufführung. Die Premiere war am 19. März 2010.
Karnevalisierung im Exzess. Calixto Bieito inszeniert im Theater Freiburg Ligetis Le Grand Macabre
Ich bin nicht unbedingt ein Ligeti Fan – mag er für die Musikhistoriker auch ein Klassiker zeitgenössischer Musik sein. Ich bin unbedingt ein Bieito Fan – mag er für manchen Kritiker auch der „Unterleibhaftige“ des heutigen Regietheaters sein. Die auf Unterleibtheater Versessenen, die kommen in Freiburg nicht auf ihre Kosten. Doch für alle Freunde der Karnevalisierung, des Karnevals im Sinne Michail Bachtins, für die ist großzügig der Tisch, sprich: die Bühne, bereitet. Die Szene wird zum bunten Bilderreigen, in dem sich Bachtins „Lachkultur“ und deren Begriffssprache konkretisieren: die Groteske und der groteske Leib, die auf den Kopf gestellte Welt, die Profanation des Heiligen, die Mesalliance, die allgemeine Familialisierung, die Exzentrik und immer wieder das befreiende Lachen, mit dem allem Schrecken begegnet wird. Auf Bachtin und seine Karnevalisierung als Regiekonzept zu kommen, dazu bedarf es allerdings bei einem Libretto wie Le Grand Macabre, einer Bearbeitung von Ghelderodes gleichnamigem Stück vom Jahre 1934, keiner allzu großen intellektuellen Anstrengung. Ghelderodes Stück La Balade du Grand Macabre, eine Parodie der Parusie, der Wiederkehr Christi am jüngsten Tage, bietet geradezu eine klassische Vorlage für das Karnevalisierungskonzept. Der Untergangsprophet Nekrotzar (die Namen aller Figuren haben eine leicht durchschaubare Namenssymbolik) ist zugleich eine Art teuflischer Wiedergänger, ein Komödiant, ein Säufer und natürlich ganz im Sinne von Bachtins „umgestülpter Welt“ die Parodie der Christusfigur, der pervertierte Erlöser, der nicht mehr ewiges Leben, sondern ewigen Tod verkündet, dessen Botschaft verlacht wird, der im Suff seine angebliche Mission vergisst und dem doch im Reigen der grotesken Figuren, die sich da auf der Bühne tummeln und die gleich die ersten Reihen des Parketts mitsamt den etwas peinlich berührten Zuschauern mit zur Spielfläche machen, letztlich nur eine Nebenrolle zukommt. Und in der Tat ist so ziemlich alles versammelt, was das Bachtinsche Panoptikum der Karnevalisierung ausmacht: der unförmig aufgeschwellte Leib in der Säuferfigur des Piet vom Fass und des schwangeren Mädchens, das immer wieder durch die Szene und den Zuschauerraum geistert, der monströse Phallus, den sich le grand macabre umbindet, um die sextolle Megäre zum scheinbar tödlichen Orgasmus zu bringen, das überdrehte Liebespaar mit den sprechenden Namen Clitoria und Spermando, das sich in alle Winkel drückt, um seinen Gelüsten freien Lauf zu lassen und das von dem ganzen Weltuntergangsspektakel gar nichts mitbekommt, die heruntergekommene Tunte, die den Fürsten mimt, der seine beiden Minister zu Gespielen reduziert, der Hofastrologe als Mischung aus Tunte und Transvestiten, der Geheimdienstchef als Melange aus sowjetischem Offizier und Lesbe. Bachtins Karnevalskategorien werden geradezu bis zum Überdruss durchexerziert. Doch wie im ‚realen’ Karneval rettet vor den Peinlichkeiten, vor all den Albernheiten, die da zu sehn und zu hören sind, immer wieder das befreiende Lachen, ein Lachen, das eben mit ‚Entsetzen Scherz treibt’. Das „Brueghelland“, das scheinbar den Triumph des Todes und den Weltenuntergang erfährt, ist ein Land des Gelächters, eines Gelächters, das vor keinen Autoritäten Halt macht, ein Land, das den Triumph des Carpe Diem, des Lebensgenusses über den Tod feiert. In Freiburg steht ein hoch motiviertes, glänzend aufgelegtes Ensemble auf der Bühne, das all die Schwierigkeiten der anspruchsvollen Partien meistert und das noch dazu mit seiner unbändigen Spielfreude das Publikum begeistert. Wollte man von all den Solisten einen hervorheben, dann müsste es der Countertenor Xavier Sabata sein, der in der Rolle des tuntigen Fürsten Go-Go als Sänger und Schauspieler in der Tat alle Mitwirkenden noch überragt. Ein großer Theaterabend – ganz wie man ihn von einem Theatermann wie Calixto Bieito erwartet. Ein Abend, in dem die Szene und nicht die Musik dominiert – ganz wie man es bei Calixto Bieito erwartet. Salopp gesagt: bei dem grandiosen Spektakel, das da aufgezogen wurde, fiel der Soundtrack nicht weiter auf. Wir sahen die Vorstellung am 23. April 2010. Die Premiere war am 30. Januar 2010.