„Wo weilet ihr so lang?“ bei Dr.Schnitzler und bei Dr. Freud. Claus Guth inszeniert einen faszinierenden Tannhäuser an der Wiener Staatsoper

Wo weilet ihr so lange?“   –  bei Dr. Schnitzler und bei Dr. Freud. Claus Guth inszeniert einen faszinierenden Tannhäuser an der Wiener Staatsoper

Regisseur Guth weiß stets die alten Geschichten neu zu erzählen und neu zu verorten. Nicht immer gelingt ihm dies. Nicht in Salzburg, wo er aus dem  Don Giovanni einen moribunden Waldschrat aus dem Salzkammergut machte – und seine Fans mehr als enttäuschte. Anderenorts gelingen ihm grandiose Neudeutungen wie in Zürich mit der Ariadne und dem  Tristan, die er in die Kronenhalle bzw. in die Villa Wesendonck verlegt. Auch jetzt in Wien gelingt ihm  mit seinem Tannhäuser Großartiges. Wie schon in Zürich so  nutzt  Guth  auch hier den genius loci, wenn er den ersten Akt  vor dem Entree eines Stundenhotels der Luxusklasse, den zweiten im Foyer der Staatsoper und den dritten  in einer psychiatrischen Klinik  spielen lässt. Dass die Klinik das Otto Wagner-Spital, das Etablissement das Hotel Orient nachstellen, in dem „sich Beamte aus den Ministerien mit ihren Sekretärinnen schnell ein Zimmer mieten, bevor sie in die S-Bahn steigen und wieder in ihr bürgerliches Leben eintauchen“, diese Verweise verstehen die Zugereisten allerdings nur über das Programmheft. Doch die Inszenierung ist weit davon entfernt, „die Fortsetzung des Programmhefts mit anderen Mitteln zu sein“ (Stadelmaier). Ihre Bilder und ihre Grundkonzeption  sprechen für sich und lassen sich auch unschwer ohne Sekundärinformationen verstehen. Zeitlicher Rahmen des Wiener Tannhäuser ist ‚die Welt von Gestern’, die späte Habsburgerzeit mit ihren Neurosen, ihrer Verklemmtheit, ihrer Doppelmoral und zugleich ihrer Eleganz und ihrer Kultiviertheit, eben die Welt wie wir sie von Schnitzler und im späten verklärenden Rückblick  von Stefan Zweig her kennen. In dieser Welt gibt es keinen Venusberg. Hier kann es allenfalls einen hinter einem Zwischenvorhang verborgenen Lustort, allenfalls verdrängte Lust geben. So ist es nur konsequent, dass Tannhäuser vor dem Zwischenvorhang steht oder hin und wieder mal unruhig auf und ab geht, dass er wohl niemals am Ort der Lust war und dass die Direktorin des Etablissements (bei Wagner eine gewisse Frau Venus) ihn vergeblich drängt hinein zu kommen. Nicht minder konsequent ist, dass die Wartburgsänger, eine leicht angetrunkene Gesellschaft wohl situierter Bürger, die  bald „der Liebe reinstes Wesen“ preisen werden, allesamt gerade mit ihren Grisetten aus dem Stundenhotel treten, wenn sie im Finale des ersten Akts den Kollegen Tannhäuser treffen. Konsequent im Sinne der Doppelmoral, des Verdrängens und der Verklemmung wird  auch das große Fest im zweiten Akt gestaltet. Die Festgesellschaft hüllt sich in lange schwarze Mäntel und trägt schwarze Masken, so als wolle sie sich wie in Schnitzlers Traumnovelle zu einer geheimen Orgie versammeln. Doch mit den Verweisen auf Freud und Schnitzler, obwohl sie alleine schon eine ganze Inszenierung tragen könnten, lässt Guth es nicht genug sein. Tannhäuser bleibt für ihn trotz der Verlegung in ein Fin de Siècle Ambiente  noch immer eine „große romantische Oper“, und da ergeben sich die Verweise auf die romantische Literatur geradezu von selber. Guths Tannhäuser ist ein psychischer Kranker oder um es besser in der Sprache der Literatur zu sagen: er ist eine E.T.A. Hoffmann Figur, die von einem Wahn geschlagen ist, der ‚Realität’ und Imagination ineinander übergehen, die aus ihren Wahnwelten nicht mehr herausfindet, eine gespaltene Persönlichkeit, der Guth ganz konsequent einen Doppelgänger zur Seite stellt, eine Figur, die  sich mit ihrem eigenen Spiegelbild konfrontiert sieht. Es sind nicht Lust und Leidenschaft, es ist nicht die „Göttin der Liebe“, die Tannhäuser in Bedrängnis bringen. Es ist ein unheilbarer Wahn, der ihn, wird er von der Liebe berührt, überfällt und der ihn schließlich zerstört. Eine Konzeption, die im zweiten Akt im Geschehen  und im Bühnenbild überdeutlich wird. Vor dem Erscheinen der Gäste begegnen sich noch einmal Tannhäuser und Elisabeth: eine pantomimische  Liebesszene, die den Wahn ganz konkret ausbrechen lässt: die Kulissen brechen auseinander und statt der vornehmen Festgesellschaft ziehen dunkle Gestalten ein, für Tannhäuser Lemuren aus der Unterwelt, die ihn bedrohen, und aus Elisabeth wird, wenn er sein Lied auf die „Göttin der Liebe“ singt, eine sich lasziv im Sessel rekelnde Venus. Zwar schickt die scheinbar entsetzte Festgesellschaft den  Tabubrecher zur Buße nach Rom –  ganz wie es  Richard Wagner will. Doch Rom ist die Wiener Irrenanstalt des Dr. Otto Wagner, hinter deren vergitterten Fenstern die Irren beim Hofgang den Gesang der frommen Pilger anstimmen, ein Ort, wo Tannhäuser regungslos im Krankenbett legt, wo Elisabeth zur Krankenschwester geworden ist, eine verzweifelte Elisabeth, die angesichts einer aussichtslosen Situation zur tödlichen Dosis Schlaftabletten  greift und  wo ein heruntergekommener, Selbstmord gefährdeter Wolfram schon mit der Pistole spielt. Und die berühmten Phrasen: „Er kehret nicht zurück“ – „Elisabeth, dürft’ ich Dich nicht geleiten“ – „Wie Todesahnung Dämmrung deckt die Lande“ gewinnen mit einmal eine ganz andere Bedeutung, eine tödliche. Erlösung – mag sie auch das Orchester mit seinem protestantischen Posaunengetöse intonieren, mag sie auch das Choralgeschmetter der „Pilger“ verkünden, gibt es nicht. Sie ist nur ein Wahn. Rettung bietet vielleicht (?)Venus, und auch sie ist nur eine Wahnvorstellung – so zitiert Guth im Finale Konwitschnys Dresdner Tannhäuser.

Eine zu Recht gefeierte Inszenierung, die sicher mit dazu beitragen wird, dass das berühmte Haus am Ring  sich endlich vom  Opernmuseum zum Haus des modernen Musiktheaters wandelt. Das Publikum, so möchte man der neuen Direktion des Hauses zurufen, möchte nicht nur die Stars der internationalen Opernszene auf der Bühne hören und sehen, möchte sich nicht nur von dem angeblich unnachahmlichen Klang der Wiener Philharmoniker bezaubern lassen. Es erwartet auch intelligente, durchdachte, vieldeutige Inszenierungen, Neuerzählungen der alten bekannten Geschichten, eben ‚Varianten des Mythos’ wie sie Claus Guth mit seinem Tannhäuser bietet. Ein großer Opernabend in Wien.  Unnötig zu sagen, dass brillant und auf höchstem Niveau gesungen und musiziert wurde – ganz wie man es von der Wiener Staatsoper erwartet. Wir sahen die Vorstellung am 27. Juni 2010, „die 4. Aufführung in dieser Inszenierung“. Die Premiere war am 16. Juni 2010.

Die Katze mit Migrationshintergrund. Medea in Corinto an der Bayerischen Staatsoper

Die Katze mit dem Migrationshintergrund – Neuenfels inszeniert Medea in Corinto an der Bayerischen Staatsoper

Wir können aufatmen. Endlich nach so vielen Flops hat München wieder eine hoch artifizielle, vieldeutig konstruierte, provozierende Inszenierung im Programm, die fasziniert und begeistert (wenn auch nicht jedermann), eine Inszenierung, die nicht auf Trash und Kunstgewerbeschrott setzt, eine Inszenierung, die nichts mit den Produkten gemein hat, die Schauspieldirektoren, die „nicht von des Gedankens Blässe  angekränkelt“ sind,  einem unbedarften Touristenpublikum vor die Füße und an den Kopf zu werfen pflegen. In München inszeniert Neuenfels zum ersten Mal – und provoziert mitten im ersten Akt, wohl gemerkt: in einer Repertoirevorstellung,  mehrfach wütenden Protest und Buhkonzerte. Man kann es gar nicht glauben. In München ist der Neuenfels Stil, der in anderen großen Musiktheatern wie etwa in Stuttgart dem Publikum seit vielen Jahren vertraut ist, für viele brave Opernbesucher noch immer eine Provokation. Der Medea Mythos hat schon seine Tücken, und die Geschichte von der rachsüchtigen Fremden, die die Rivalin vergiftet und ihre eigenen Kinder tötet, um den Ehemann, der sich einer Frau aus seinem eigenen Kulturkreis zugewandt hat, zu demütigen und zu vernichten, all das ist ja schon nicht ganz leichte Kost. Und wenn dann die Regie das Gewaltpotential, das den Medea Mythos bestimmt, noch verstärkt, dieses nicht nur im Fremden, sondern auch im Heimisch-Vertrauten erkennt und noch dazu in Parallelhandlungen visualisiert, ja dann mag sich so manch braver Opernbesucher, der doch nur die meist sanfte und gefällige Musik Mayrs, die ihn wohl so fern an Mozartklänge erinnert, genießen wollte, provoziert und überfordert fühlen. Dabei zitiert Neuenfels doch nur aus Film und Fernsehen, aus Oper und  Gesellschaftskomödie, aus archaischen Märchen und allegorischem Spiel und bricht all diese Materialien durch Übertreibung und Ironie. „Man findet immer jemanden, der das ironisch Gemeinte ernst nimmt“, meinte einmal beiläufig Umberto Eco, und beim Münchner Publikum  hätte  er wohl manchen finden können, der mit seinem Verhalten diese alte These bestätigt hätte. Und dabei sind doch die Klischees, die  Neuenfels zitiert und ironisiert, gar nicht so schwer als solche  zu erkennen. Diese Mischung aus Wiener Parlamentsgebäude, Theatervorhalle und Second Empire Empore als Einheitsbühnenbild, die Uniformen aus der Zeit der Kolonialkriege, all das verweist auf das 19.Jahrhundert und dessen imperiale Macht über das Exotische. König Kreon kommt als ein in die Jahre gekommener buckliger, zur Macht gelangter Funktionär aus der französischen Revolution da her, Prinzessin Kreusa als eine Art Evita Perón Verschnitt, der arme Jason als ein betulicher lateinamerikanischer Militär, der abgewiesene Liebhaber Egeo ( im Schema der opera seria der secondo uomo) ist ein schwächlicher Don Ottovavio, seine drei Begleiter erinnern an die Schmugglerbrigade aus der Carmen und die Vertraute der Medea ist ein Biedermeierpüppchen, das Ännchen aus dem Freischütz. Medea selber erscheint bei ihrem ersten Auftritt mit Negermaske und Bambusröckchen, lässt Röckchen und Maske aber schnell fallen, um im schwarzen Unterkleid als leidende, rachsüchtige und hysterische Anna Magnani zu agieren, eine Magnani, die mit ihrer machtvollen Stimme, ihrer Bühnenpräsenz, ihrer schauspielerischer Dominanz alle  Mitspieler gleichsam an die Wand spielt und singt und der man doch eine archaisch blutrünstige Medea nicht so recht abnehmen will und die man eher mit einer rachsüchtigen Hausfrau und in ihrer Drahtigkeit mit einer Hochleistungssportlerin assoziiert. Neuenfels  – und dies macht nicht zuletzt den Reiz der Aufführung aus – lässt  kein Klischee  aus. Da werden zur Kavatine der Kreusa, die sie unter Harfenbegleitung vom Balkon des Palazzo singt, die Gefangenen im Keller vom sadistischen Dienstpersonal gefoltert, und der arme Egeo/Ottavio muss manchmal mit aller Kraft den Knebel ausspucken, um seine Arie weiter singen zu können. Hart im Raume, so wissen wir noch von Victor Hugo, stoßen sich halt das Sublime und das Groteske. Eros und Thanatos sind  in Gestalt eines blonden bzw. eines schwarz gelockten Jünglings mit dabei, spielen als stumme Begleiter mit, nehmen in der Pantomime das Geschick der Protagonisten vorweg: der Todesjüngling trägt das kostbare von Medea vergiftete Kleid herbei, das Kreusa, den Tod bringt, sucht diese vergeblich von der Hochzeit mit Jason abzubringen und entreißt ihr immer wieder den Brautkranz. Vergebliches Bemühen. Amor steht betrübt daneben, wenn  Medea am kleinbürgerlichen Küchentisch vergeblich ihre Beziehung zu Jason retten will, und gemeinsam spielen der Todesjüngling und der Erosjüngling die schlafenden Kinder, die Medea töten wird. Als Vorwegnahme des künftigen Geschehens – der Mord an  Kreusa  und die allgemeine Orgie  der Gewalt – fungieren gleich die ersten Szenen: da werden die Brautjungfern abgeschlachtet, die „Neger“ in Messerstechereien gehetzt und der Sieger abgeknallt – zwei Szenen, die gleich ein gewaltiges Buh im Hause provozierten, und dabei sind sie doch nichts anderes als variierende Zitate aus Action- oder Pulp Fiction Filmen, die anders als bei diesen hier in der Münchner Medea eine dramaturgische Funktion haben: eben Vorwegnahme und zugleich konzentrierende Duplikation der Handlung. So macht Neuenfels aus einer heute fast vergessenen opera seria (in St. Gallen war sie in der vergangenen Saison zu sehen) einen grandiosen, spannenden Opernabend. Und wenn dann noch dazu eine so herausragende Sängerin und Schauspielerin wie Nadja Michael als Protagonistin auf der Bühne steht und Ivor Bolton dirigiert, dann bleiben keine Wünsche offen. Wir sahen die Vorstellung am 16. Juni 2010, die dritte Aufführung nach der Premiere am 7. Juni 2010.

Lustlos – Freudlos -Heterogen -Faszinierend. Die Walküre in Paris

Lustlos – Freudlos – Heterogen – Faszinierend

Die Walküre (La Walkyrie) an der Opéra National de Paris

Wer bisher glaubte – und Bechtolfs Wiener Walküre  konnte ihn darin nur bestärken -, dass es in der Walküre, und dies zumindest im ersten Akt, um Sehnsüchte und Leidenschaften, um eine fatale Liebe als Passion ginge, der wird in Krämers Walküre eines anderen belehrt. Das Paar, das da in Paris zu einem  matt und müde, leise und quälend  langsam sich dahin schleppenden Sound verhalten und bedächtig sang und spielte, ja dieses Paar kann noch nie  von Erotik, geschweige denn von Leidenschaften etwas gehört haben.  Und wenn die beiden nach einer keuschen Erkennungsszene in einen Wald aus blühenden Mandelbäumen  fliehen – sie im weißen blumenbestickten Kleid, er im grauen Militarylook – dann ergibt das ein sehr hübsches Schlussbild, und die symbolischen Konnotationen liegen ja auch recht nahe (wie vorher schon bei der rieselnden Wasserwand). Aber ‚Liebe als Passion’ ist das alles nicht. Davon wollen weder Günter Krämer noch Philippe Jordan in ihrer Walküre etwas wissen. Für sie  flüchtet ein Nachsommerpaar vor einem dynamischen jungen Mann namens Hunding, dem Kommandanten einer schnellen Eingreiftruppe und Spezialisten für das Abschlachten von Flüchtlingen, zur Mandelblüte nach Mallorca. Eine seltsam lustfeindliche Interpretation des ersten  Akts der Walküre, der es wohl vor allem darauf ankommt, das Thema der Gewalt spektakulär herauszustellen. Gleich zur Ouvertüre darf Hundings Truppe Flüchtlinge massakrieren und damit Siegmunds Erzählung von Kampf und Flucht visualisieren. Allgemeine Begeisterung im Publikum nach dem ersten Akt. Warum eigentlich? Weil die Regie mit den Mandelblütenträumen vielleicht ein bisschen auf einen Proust Titel ( A l’ombre des jeunes filles en fleurs) verweisen wollte? Weil endlich mal wieder Wagner gespielt wird? Weil man sowieso nichts verstanden hat? „Qui  est ce jeune homme en tenue de chasse?“ (sie meinte Hunding) fragte mich in der Pause eine ältere Dame. « C’est le cocu Madame“ – da wusste sie gleich Bescheid, und ich als frustrierte Zugereiste überlegte, ob ich nicht doch  lieber gegenüber bei Bofinger Austern essen gehen sollte. Ich bin dann doch geblieben, zumal meine Freundinnen Ariadne und Marie Anne es doch nicht ganz so schlimm fanden. Und es hat sich gelohnt. Nach der Pause, da ist plötzlich alles anders. Da gewinnt das Orchester an Schwung, spielt endlich einen zwar nicht unbedingt rauschhaften, aber keinen langweiligen Wagner. Da zitiert Krämer sich selber: die Salzburger Spiegelbühne aus seinem Mitridate, da nimmt er Schlüsselmotive aus seinem Pariser Rheingold wieder auf, wenn  er wieder Leni Riefenstahls Sportstudenten Germania in großen Lettern aufstellen lässt, wenn er für die Walküren gleich eine ganze Ladung von Freias Äpfeln zum Spielen, zum Spielen mit dem Leben der „Heldensöhne“ bereit stellt, da beherrscht ein dynamischer junger Wotan in der Person des Thomas Johannes Mayer die Szene, und die Walküre kann zumindest gesanglich mithalten, da wird das Gewaltmotiv zugunsten des Todes- und des Endzeitmotivs zurückgedrängt. „Germania“ schrumpft zu „Mania“. Dem  endgültigen Abschied des Liebespaars fehlt aller süßliche Kitsch. Ein freudloser Tod erwartet die Liebenden, und aus dem Mandelblütenwald  winken schon die Walküren. Oder sind es die Nornen? Einen Kampf zwischen Siegmund und Hunding gibt es nicht. Soldaten der schnellen Eingreiftruppe umringen die beiden und als die Militärs sich erschreckt zurückziehen, da liegen die Rivalen tot am Boden, und das hohe Götterpaar, gleichsam zum Tableau vivant gefroren, schaut zu. Im dritten Akt  schließlich wird das Todesmotiv  für die Inszenierung zum einzig dominanten: Wotans nackte „Heldensöhne“ werden von Walküren Krankenschwestern für den Endkampf wieder fit gemacht, der tote Siegmund liegt als Präfiguration des toten Siegfried  auf einem  einer Bahre ähnlichen Tisch. Und im Schlussbild da wird der scheinbar so obligatorische Feuerzauber gerade mal angedeutet. Zur Feuermusik zitiert die Regie das Finale der Götterdämmerung: in einer verbrannten Welt stehen ratlos die Menschen. Ein unerwartetes Endzeitfinale in der Walküre. Doch was schon für das  Pariser Rheingold galt, das gilt nicht minder für die Pariser Walküre. Dem routinierten Theatermacher Krämer gelingen grandiose Bilder und beeindruckende Szenen. Doch eine das ganze konstituierende und strukturierende Grundkonzeption ist schwerlich zu erkennen. Vielleicht ist sie auch gar nicht beabsichtigt. Wir sahen die Aufführung am 20. Juni, die sechste Vorstellung dieser Inszenierung.

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Kitschige Tage – Ein Hollywood Melodrame am Nachmittag. Träumereien eines Blumenmädchens am Abend. Der Ferne Klang und Rusalka am Opernhaus Zürich

Wann hat man schon Gelegenheit, zwei so unterschiedliche Opernspektakel an einem Tag zu hören und zu sehen. Aber vielleicht sind sie gar nicht so unterschiedlich? Ist vielleicht der Kitsch das Gemeinsame, was sie verbindet? Neoromantischer Kitsch? Hier bei Schreker die Sehnsucht nach der blauen Blume, pardon: nach dem unerreichbaren fernen Klang, der sich natürlich nur beim Verscheiden in den Armen der einstens so schnöde Verlassenen findet. Dort bei Dvorak die Sehnsucht nach der großen Liebe als Variante des Undine Mythos. Ja, ich weiß: jeder Kenner nennt mich verächtlich eine Ignorantin. Aber ich bleibe dabei: was da im Zürcher Opernhaus bei der nachmittäglichen „Volksvorstellung“ als ferner Klang zelebriert wurde und erst recht was sich da auf der Bühne tat, das ist ein Hollywood Melodrame mit dem entsprechend süßlichen Sound. All das ist per se nichts Negatives. Aber ein Geniestreich ist es auch nicht. Auch wenn man es uns in diesem Sinne gern verkaufen möchte. In Zürich bietet man, ganz wie man es von diesem Hause erwartet, die Crème de la Crème der Opernszene auf. Ingo Metzmacher am Pult. Auf der Bühne Stars wie Juliane Banse und Roberto Saccà in den Hauptrollen. Und doch produziert man an diesem  heißen Nachmittag nicht nur – aber viel Langeweile. Vielleicht müsste man die Schreker Klänge öfters hören, um ihren Zauber zu erkennen und zu genießen. Sie sind sicher mehr als ein ewiges Dahinplätschern. Vielleicht hat auch die  – mit Verlaub gesagt – etwas unbedarfte  oder auch nur lustlose Regie dazu beigetragen, dass von der Zürcher Schreker Aufführung, von der sich der  neugierige Opernfan eigentlich sehr viel versprochen hatte, so wenig Faszination ausging. Die Inszenierung erschöpft sich in einem billigen Naturalismus frei nach Hauptmann oder frei nach Horváth und wenn sie im zweiten Aufzug frei nach La Traviata auf verrucht macht, dann wird es ganz schrecklich, dann ist alles nur noch peinlich. Ach, was sind wir doch so spießig in Zürich.  Zum Glück für die Aufführung hat man eine so grandiose Sängerin und Schauspielerin wie die Banse engagiert. Wie sie im ersten Akt das naive verliebte kleine Mädchen und im letzten Akt die verhuschte alte Frau, die nicht von ihren Illusionen lassen will, spielt, das ist schon bewundernswert. Ansonsten: in Zürich ist der ferne Klang nichts als ein flüchtiger Klang.

Für die Rusalka hatte vor ein paar Jahren  Jossi Wieler in Salzburg eine spät-postmoderne Variante gewählt und damit für jeden im Publikum etwas parat: das Kindermärchen für Erwachsene im ersten Akt, die wohlfeile Gesellschaftskritik  im zweiten, das  Luxusbordell im  dritten Akt und das Zitat aus einem Gangsterfilm im Finale. Stefan Herheim erzählt in Brüssel und Graz den Undine Mythos als Wassermanns Nightmare und macht Rusalka zu einer Art Irma La Douce, zur kleinen Hure, die inmitten einer grotesken Welt von der großen Liebe träumt. Und wo sind wir in Zürich? Da sind wir bei den Reichen und Schönen von der Zürcher Goldküste, die sich in ihre Villa mit Blick auf die Stadt zur Unterhaltung – ein extravaganter Einfall des jungen Hausherrn – ein stummes Blumenmädchen eingeladen haben. Leider erweist sich das kleine Blumenmädchen als eine femme fatale, die den schönen jungen Mann um Verstand und Leben bringt, obwohl sie das doch eigentlich gar nicht will. Aber die Zwänge ihrer Sippe (sprich: die Zwänge des Antimärchens oder des Mythos) sind halt so. Es verwundert nicht, dass so routinierte Theatermacher wie Matthias Hartmann und Karl-Ernst Herrmann aus dieser so einfachen Geschichte ein opulent grandioses  Opernspektakel zu machen wissen, in dem sich in gut romantischer Manier Phantastisches, Groteskes und scheinbar Reales mischen, in dem aus dem scheinbar Vertrauen das Phantastische hervorbricht oder auch erträumt wird. Der See des Libretto ist in Zürich zur Blumenwiese geworden, über den eine Starkstromleitung führt.  Und doch ist die Wiese zugleich der Ort, wo sich Phantastisches ereignet, ein Ort, wo eine Märchenhexe eine Pennerin, die vor einem Hydranten sitzt, in ein Blumenmädchen verwandelt, ein Ort, wo Waldelfen (die Nixen des Libretto) spielen und singen, ein Ort, wo ein Herr im Biedermeieranzug den Wassermann des Libretto gibt (ein Verweis auf romantische Literaten? auf E.T.A. Hoffmann? auf  Friedrich de la Motte Fouqué? Vielleicht). Im letzten Akt ist die Wiese natürlich  zum Tümpel und zum Müllplatz geworden, das Blumenmädchen wieder zur Pennerin mutiert, den verstörten jungen Mann trifft wohl der Schlag, der Wassermann hat eine Ladung Altöl auf seinen schicken Anzug bekommen, die Elfen spielen neckisch im Müll usw. usw. Ein bisschen viel der Überdetermination. Ja, wir haben schon begriffen, dass das Reale das Phantastische zerstört, dass die Märchen eigentlich Antimärchen sind, dass die arme Rusalka, wenn sie jetzt wieder bei ihrem Hydranten ruht, die schöne Geschichte von Liebe und Lust, Leid und Tod sich nur erträumt hat.

Unnötig zu sagen, dass im Zürcher Opernhaus brillant und auf höchstem Niveau gesungen und gespielt wurde. Was aus dem Orchestergraben klang, das war vielleicht nicht unbedingt die spätromantische Zaubermusik, die damals in Salzburg Maestro Welser-Möst erklingen ließ. Manchmal dröhnte es mir ein bisschen zu viel. Wie dem auch sei. Die Zürcher Rusalka ist allemal ein Hit, den man nicht versäumen sollte. Wir sahen die Vorstellung am 6. Juni 2010. Die Premiere war am 30. Mai.

Alles ist Theater. Jan Bosse und Andrea Marcon machen in Basel aus der Calisto einen grandiosen Theaterabend

Fort mit der traditionellen Guckkastenbühne, fort mit dem Orchestergraben. Schluss mit der Trennung von Zuschauern und Akteuren. In Basel sitzen die Zuschauer auf der Bühne und im Parkett, und Spielfläche sind der zugedeckte Orchestergraben und – das ganze Haus. Die Sänger sitzen durchweg im Publikum, treten von dorther auf, singen und spielen, wo und wie es sich gerade ergib. Hauptspielfläche bleibt indes der zugedeckte Orchestergraben. Das Orchester ist zweigeteilt, sitzt zu beiden Seiten des Grabens. Einziges Requisit ist das Wasser, das als gewaltige Dusche oder als Regenvorhang auf die Sänger herabstürzt bzw. herabregnet, wann immer sie  sie von der Liebe singen – und das tun sie eigentlich ständig. Ach ja, die erotischen Konnotationen der Wassersymbolik, die kennen wir noch aus dem ersten Semester. Heißt es nicht irgendwo bei Novalis: „Das Wasser, dieses ewige Element luftiger (oder meinte er lustiger?) Verschmelzung“. Und natürlich: „Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern“ (in unserem Kontext muss es wohl heißen: und Jupiter lässt es regnen – in ambivalenter Hinsicht). Und wer das alles  nicht versteht, für den hat die Regie einen stummen Amor dazu erfunden, der als Spielleiter immer dabei ist, auf dass auch der Einfältigste im Publikum kapiere, um was es in Calisto geht. Und im Finale, da darf das Publikum sogar mitspielen: mit Lämpchen, die in der Pause verteilt werden und natürlich nach der Vorstellung wieder eingesammelt werden, darf es die Sterne markieren, unter die Calisto, die Bärin, versetzt wird.

Ach, welch schöner Theaterabend. Großes Spaßtheater für alle, ein heiter gestimmtes Publikum, das nie weiß, ob der Sitznachbar vielleicht gleich aufspringt und mitspielt oder nur so tut. Brillante Sängerschauspieler, ein hoch motiviertes Orchester. Che divertimento an einem heißen Sommerabend. Und den tollsten (?) Gag hätte ich beinahe vergessen: die Zuschauer sitzen wie einstens die Gläubigen in der Kirche nach Geschlechtern getrennt: die Damen im Parkett, die Herren auf der Bühne, auf dass sie von ihren Ehegespons, ihren Mätressen und Liebhabern getrennt, doch endlich einmal sehen, wie es die Männer mit den Weibern und die Weiber mit den Männern treiben? Oder sollen wir noch einmal erfahren, dass es Passionen nur in der Scheinwelt des Theaters gibt? Viel Lärm um nichts? Wie dem auch sei. Die Basler Theatermacher haben uns glänzend unterhalten. Wir sahen die Vorstellung am 5. Juni 2010. Die Premiere war am 21. Mai des gleichen Jahres.

Geschichten aus dem Freiburgland. Eine respektable Götterdämmerung am Theater Freiburg

Wenn mittelgroße Häuser sich an den Ring wagen und wenn er dann wie jetzt in Freiburg (vielleicht mit Ausnahme des Rheingolds) auch noch gelingt, dann erübrigt sich jegliche Mäkelei, dann kann man den Wagemut der Verantwortlichen nur bewundern. In Freiburg steht – allen voran Christian Voigt als Siegfried und Sabine Hogrefe als Brünnhilde – ein brillantes Sängerensemble auf der Bühne, das nach einem etwas verhaltenen Beginn  sich immer mehr steigerte und das zu Recht enthusiastisch gefeiert wurde. Auch was aus dem Graben klang, war beachtlich (es muss ja nicht immer gleich die Wagnerdroge sein, wie sie –  manchmal – den großen Häusern gelingt). Die Inszenierung versucht sich erst gar nicht an einem Welterklärungsmodell, sondern setzt konsequent und stringent auf eine Aktualisierung und Degradierung des Mythos, um nicht zu sagen: auf eine Banalisierung des Geschehens. In Freiburg geht es nicht um Gott und Menschheit, tumbe Helden und finstre Bösewichte. Hier geht es um Intrigen, um Eifersucht und Rachsucht und Scheitern unter eher unbedarften kleinen Leuten. Brünnhilde ist in der ersten Szene das späte Mädchen von nebenan, das mit seinem Lover im Bett liegt und von Albträumen gequält wird: ihre Puppen verwandeln sich in groteske Hexen (bei Wagner die Nornen) und versuchen, sie im Wortverstande einzuspinnen und zu fesseln. Siegfried, im weißen Sommeranzug, ist ein eitler Sunnyboy, der offensichtlich mit der falschen Frau im Bett liegt und der von Gutrune, die ein bisschen auf verrucht macht, mit einem Kuss (auf den Zaubertrank verzichtet die Regie zu Recht) gefügig gemacht wird. Und Hagen ist keineswegs der Finsterling, als der er so gerne präsentiert wird. In Freiburg ist er mit Brille und im gediegenen Anzug ein Intellektueller, vielleicht ein zu kurz gekommener Professor oder Bibliotheksrat, der für die Katakomben der Uni-Bibliothek zuständig ist und inmitten von unausgepackten Bücherkartons lebt. Gunther und Gutrune sind wohl für die  oberen Etagen der Bibliothek zuständig. Da ergibt es sich gleichsam von selber, dass man in den Kisten die alten Geschichten von Siegfried und Hagen und den Nibelungen findet und – ein schöner, gar nicht aufdringlicher Metatheatergag –  sie nachspielt.  Und alle Mitarbeiter spielen mit: die studentischen Hilfskräfte dürfen die Rheintöchter machen und die kräftigen  Bücherschlepper, die spielen halt die Mannen. Professor Hagen ist am Ende richtig erschrocken darüber, dass er seinen Rivalen, den Schönling Siegfried, gemeuchelt hat. Wollte der doch gar nicht Bibliotheksdirektor werden, sondern sich nur mit der hübschen Assistentin Gutrune amüsieren. Oder sagen wir es im Uni-Jargon: Altgermanist Prof. Hagen hat endlich sein Forschungsobjekt, die Nibelungen, und den verhassten, so erfolgreichen Kollegen noch dazu zur Strecke gebracht. Schade nur, dass das frustrierte späte Mädchen, die neu dazu gekommene Kollegin, der alle Mitspieler so viel Übles angetan haben, den burschikosen Rächer mimen will. Da bleibt Professor Hagen nur die Flucht hinter seine Bücherkartons, und alle Mitspieler (alle Mitarbeiter der Bibliothek) schauen im Finale recht verbiestert drein. Ja, warum soll man Wagners Mythen nicht auch mal von ihrer Schwerlastigkeit befreien und sie als Variante der Banalitäten erzählen. In Freiburg macht man das gekonnt. Wir  sahen die Vorstellung am 4. Juni 2010. Die Premiere war am 16. Mai des gleichen Jahres.