Unser Emeritus träumt von Weibern und Dämonen. Ein heterogener Gounod Faust an der Staatsoper im Schiller Theater

Da sind die Rollen des Faust, des Méphistophélés, der Marguerite mit Pavol Breslik, René Pape und Tatiana Lisnic höchst brillant besetzt, da schwelgt die Staatskapelle unter Simone Young im wundersüßen Gounod Kitsch, einer Musik, die die Zuhörer geradezu einlullt. Und jeder von uns vergisst das Husten – und das Liebespaar vor mir das Knutschen.

Es war alles so schön, und noch schöner wäre es gewesen, wenn das Regieteam eine Grundkonzeption gehabt und nicht so verzweifelt nach einer szenischen Lösung gesucht hätte. Richtig, so mögen sie im Team gedacht haben, das Volksbuch vom Doktor Faust soll der Knabe Goethe als Puppenspiel gesehen haben. Gut so. Stecken wir ganz in diesem Sinne unseren Rentnerprofessor in ein Puppentheater und machen den Mephisto zum diabolisch aussehenden Theaterdirektor. (Dass dieser mit seinen dunklen Augengläsern, die der Sänger Pape während der gesamten Aufführung tragen muss, wie ein Mafiapate aussieht, nehmen wir in Kauf). Bei der Puppentheater Konzeption  ist es nur konsequent, wenn das närrische Volk im zweiten Akt auf sich steif und hölzern bewegende Marionetten macht und Marguerite (mehr als unvorteilhaft für die Sängerin)  als füllige Käthe Kruse Puppe auftreten muss. Was  Juniorprofessor Faust (vom Outfit her ein aufstrebender Parteifunktionär)  mit dieser Puppe anfangen soll, ja, das wissen wir noch von der Schule her.… → weiterlesen

„Hier soll ich dich denn sehen; Konstanze“ – Hier im Publikum? Die Entführung aus dem Serail an der Staatsoper im Schillertheater

Was soll eigentlich dieser obsolete Türkei-Exotismus mit Renegaten, Haremsdamen, Eunuchen, Palästen am Strand, Lustreisen auf dem Meer. Was sollen diese gewaltsamen Aktualisierungen, diese Verlegungen des Geschehens nach Neukölln oder ins Hartz IV Milieu oder diese postfreudianischen Psychodramen. Überlegungen, die wohl Michael Thalheimer angestellt hat, als er vor nunmehr fast sechs Jahren Die Entführung aus dem Serail in Berlin inszenierte.

All den konventionellen Plunder lässt die Regie beiseite und entscheidet sich für einen konsequenten Minimalismus. Einziges Requisit sind ein paar Stühle.  Gespielt wird  in einem ganz in  Schwarz gehaltenen Bühnenraum auf zwei Ebenen, auf den seitlichen Passerelles und direkt im Publikum. Belmonte singt seine Auftrittsarie aus der dritten Parkettarie: ein blonder junger Mann im hellen Sommeranzug unterhält sich vor Beginn der Aufführung ganz entspannt mit seiner Sitznachbarin (die einzige ringsum, die ihn als Theaterfigur und als Person erkennt), steht nach der Ouvertüre auf und singt die erste Belmonte Arie. Leuchtende Augen bei den Kindern in der Reihe vor mir, Erstaunen, Überraschung bei den zahlreich vertretenen Schulklassen, die wohl zum ersten Mal in ihrem Leben in der Oper  sind und gleich mit einem Regie Gag das Faszinosum des Theaters erleben.

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Tristan und Isolde – einmal ohne Wagner. Frank Martin: Le Vin herbé. Der Zaubertrank in der Staatsoper im Schiller Theater

In Berlin ist eine Rarität – für mich eine absolute Rarität – zu hören und zu sehen. Musik von Frank Martin hatte ich noch nie gehört, ein Versäumnis, das mir nach dieser faszinierenden Aufführung geradezu peinlich ist.

Frank Martins Tristan Version ist ein „Weltliches Oratorium nach drei Teilen des Romans Tristan e Iseut von Joseph Bédier für 12 Singstimmen, 7 Streichinstrumente und Klavier“.  Minimalismus pur in der Musik – und in der Szene. Katie Mitchel löst das Geschehen radikal aus seinem mittelalterlichen Ambiente und transponiert die Handlung in das Jahr 1942, das Jahr der „Uraufführung der abendfüllenden Fassung“, und lässt sie in einem von den Kriegswirren halbzerstörten Theater spielen. Als Dekor genügen ein paar Tische und Stühle, eine Feuerstelle, ein Bett: Ort der Liebe und des Todes für Tristan und Isolde. Kostüme: schwere Wintermäntel und die Alltagskleidung jener Zeit. Ganz entsprechend der Aufführungspraxis eines Oratoriums sind die  zwölf Sänger alle Zeit auf der Bühne präsent. Einzelne treten hervor, singen und gestalten ihre jeweilige Rolle, um dann wieder zurück zu treten  und sich in den Chor wieder einzufügen. Oratorium und Theater gehen geradezu unmerklich ineinander über, wobei das Oratorium immer wieder die Theaterillusion zerstört und damit den Zuschauer auf Distanz hält. Tristan und Isolde ohne Rausch.

Frank Martin hat neben Prolog und Epilog drei Episoden aus Bédiers Tristan Fassung in Musik, in Kammermusik und in Gesang, transponier: „Der Liebestrank“, „Der Wald von Morois“ [dorthin waren Tristan und Isolde geflohen. Dort findet der König das schlafende Paar, verschont es und verzeiht ihm], „Der Tod“. Zur Musik mögen die Musikhistoriker das Nötigen wissen und sagen. „Martins Musik kennt weder Arien noch Rezitative, sondern verwendet eine fließende, den Text Silbe für Silbe vertonende Deklamation, die sich ans französische Sprachmelos anschmiegt und viel dem Vorbild von Debussys Pelléas et Mélisande verdankt“(Uwe Schweikert im Programmheft Seite 19). Der Wagner Bewunderer, der von dessen Tristan Klängen wohl Deformierte, mag enttäuscht sein. Doch jeder Vergleich zwischen Wagner und Martin ist von vornherein abwegig. Es ist halt etwas vollkommen anderes, was in Frank Martins Oratorium zu hören und zu sehen ist. Und doch berührt es den Zuhörer und dies nicht zuletzt wegen der Inszenierung, die mit minimalen Mitteln und mit brillanten Sängerschauspielern (allen voran Anna Prohaska und Matthias Klink in den Hauptrollen) faszinierendes Theater zu kreieren weiß.

Wir sahen die Aufführung am 26. April 2014, die neunte Vorstellung. Die Premiere war am 25. Mai 2013.

 

 

Tannhäuser mit Ballett und „Ausdruckstanz“ und mit Erotik aus dem Orchestergraben in der Staatsoper im Schiller Theater

Es muss ja nicht immer ein Tannhäuser gegen den Strich sein – ohne Erlösung und mit Selbstmord oder ein Tannhäuser als scheiternder Künstler mit Notenblättern unter dem Arm oder ein Tannhäuser, der von Albträumen und Wahnvorstellungen gequält wird oder ein Tannhäuser als Outlaw im Bordell der braven Bürger oder ein Tannhäuser, der mit Frau Venus eine schwarze Messe feiert und im Hospiz zu Charenton endet – und was es da sonst noch an Deutungsmöglichkeiten gibt.

An der Staatsoper im Schillertheater, wo die Choreographin Sasha Waltz Regie und Ausstattung des neuen Tannhäusers verantwortet, hat man sich für die einfachste Lösung entschieden. Ohne ideologischen Anspruch, ohne Weltverbesserungsabsicht, ohne zwanghaftes Suchen nach Originalität hält man sich einfach an das, was im Libretto steht und ergänzt Musik und Libretto mit Tanz, mit Ausdruckstanz und schafft so eine dritte Dimension. Eine durchaus gelungene Lösung – ganz wie man sie von eine Choreographin erwartet. Warum  ein Teil des Publikums lautstark sein Missfallen über die Inszenierung kundtun musste, kann ich nicht nachvollziehen. Wer lieber einen spektakulären  Tannhäuser sehen möchte, der sollte halt nach Dresden zu Konwitschnys oder nach Wien zu Guths Inszenierung fahren. Dort wird ihm  beide Male ein Tannhäuser A rebours geboten.

Was im Schillertheater auf der Szene geboten wurde – sieht man einmal von den eher peinlichen erotischen  Bodenturnübungen ab, die die Tanzgruppe zum Pariser Bacchanal in einer Art aufgewölbter Muschel absolvierte, sieht man von dieser missglückten Introduktion einmal ab, dann waren alle Ausdruckstänze einfach nur schön. Ganz gleich ob die Tanzgruppe nun Pilger, Jagdgenossen, eine junge Festgesellschaft spielte und tanzte und dabei eben Gesang und Text und Orchesterklang in Gestik und Bewegung umsetzte, all dies war alle Male überzeugend, ansprechend, einfach schön anzusehen.

Doch beim Berliner Tannhäuser steht nicht die Inszenierung im Zentrum. Ganz im Gegenteil. Orchesterklang und Gesang dominieren. Ich bin nicht unbedingt ein Barenboim Fan. Doch wie der Maestro mit der Staatskapelle an diesem Abend die glitzernde Erotik der Tannhäuser Musik hervorzauberte, das war schon höchst beeindruckend. Und wie Peter Seiffert, der nun fürwahr kein Jüngling mehr ist, bis in die letzte Szene hinein einen brillanten, makellosen Tannhäuser sang, das war nicht minder beeindruckend. Keine Frage: ein großer Opernabend in der Staatsoper.

Wir sahen die Aufführung am 27. April 2004, die vierte Vorstellung. Die Premiere war am 12. April 2004.

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Friedhofsmärchen mit Bauerntheater-Einlagen nebst bunten Videospielen zum Wagner Sound. Götterdämmerung an der Staatsoper im Schillertheater

Wagner  „ist verhängnisvoll für das Weib“. „Ganz Opfer, ganz Hingebung: man hat nichts, was man ihm nicht geben würde“. „Das Weib verarmt sich zugunsten des Meisters, es wird rührend, es steht nackt vor ihm“. Eine Beschreibung der Wagnerianerin, die ich bisher immer für eine satirische und misogyne Bemerkung Nietzsches gehalten habe. Dass die Realität die Satire übertreffen kann, am vergangenen Sonntag nach der Premiere zur Berliner Götterdämmerung, dort hab ich‘s erlebt. Kaum war der letzte Akkord verklungen, brach eine Dame mittleren Alters in der Reihe hinter mir in kreischendes Geschrei aus, konnte sich überhaupt nicht mehr beruhigen, schrie nur immer lauter und hysterischer.  War das der berüchtigte Orgasmus in der Opernloge, den der „alte Minotaurus“ namens Wagner ausgelöst hatte? Aber vielleicht hat die Dame auch nur eine Opernaufführung mit einem Pop Konzert verwechselt. Nicht zuletzt wegen dieses für alle Umstehenden  schmerzhaften Brunstgeschreis sind wir noch beim Applaus aus dem Parkett geflüchtet. Grund zu übermäßigem Beifall gab auch nicht. Was da am langen Premierenabend im Schillertheater geboten wurde, war, um es freundlich zu sagen, eine recht konventionelle Götterdämmerung.… → weiterlesen

Offenbachiade – ohne Klamauk. Emmanuel Chabrier, L’Étoile an der Staatsoper im Schillertheater

Wann hat man schon Gelegenheit, zwei Stars der Musikszene in einer ganz normalen sonntäglichen Repertoireaufführung zu erleben. Und noch dazu nicht bei Wagner oder Strauss, sondern in einer opéra bouffe aus der Belle Époque: Simon Rattle  als Dirigent der Staatskapelle Berlin  und Magdalena  Kozena in der Rolle des androgynen Straßenhändlers Lazuli, der statt vom König ins Jenseits befördert zu werden, die Prinzessin kriegt. … → weiterlesen