Gleich zur Ouvertüre liegt das großbürgerliche Haus der Capuleti voller blutiger Leichen. Gleich zur Ouvertüre springt das Mädchen Giulietta, das gerade im weißen Unschuldskleidchen die Erstkommunion gefeiert hat, dem Vater auf den Schoß. Gleich zur Ouvertüre nähert sich der noch jugendliche Vater im Badezimmer dem Mädchen von hinten. Gleich zur Ouvertüre hält Giulietta in einer Pietà Geste den gerade erschossenen Bruder in ihren Armen. Bilder, die die Drehbühne wie bei einem schnellen Filmschnitt dem Zuschauer aufdrängt. Bilder, die zugleich die Grundkonzeption der Regie sowie die Leithemen offenlegen.
Christof Loy erzählt keine Geschichte aus einem fernen spätmittelalterlichen Verona. Er erzählt keine Liebesgeschichte. Er erzählt die Geschichte einer traumatisierten jungen Frau und eines dem Todestrieb verfallenen jungen Mannes. Giulietta singt zwar von der romantischen Liebe, von der Passion, die auch die eigene Vernichtung nicht scheut. Doch diese Giulietta kommt aus dem vom eigenen Vater gesetzten Trauma nicht los, von der inzestuösen Bindung an die dominante Vaterfigur. Erst als der Vater sie verstößt, da kann und will sie mit dem Geliebten fliehen. Erst da gelten die klassischen und offensichtlich nur vorgetäuschten ‚Tugenden‘ der Ehre und der Familienzwänge nicht mehr. Erst da ist das inzestuöse Trauma überwunden.
Man mag diese freudianische Deutung der Giulietta Figur, die so ganz den Klischees widerspricht, für abwegig halten. Doch konsequent und stringent ist sie im Rahmen der Inszenierung alle Male. Romeo und Julia können nicht zusammenkommen, nicht weil die rivalisierenden Gangster eine Verbindung verhindern, sondern weil die Verbindung zwischen Vater und Tochter keinen Platz für einen Dritten lässt und – dies ist das zweite Leitthema der Inszenierung – weil dieser Dritte ein Todessüchtiger ist, in den Tod verliebt ist und gleichsam eine homoerotische Verbindung mit der Todesfigur eingegangen ist. Dieser Tod ist kein Gespenst und kein Knochenmann. Er ist ein melancholischer junger Mann. Er ist stets präsent, ist Romeos (ganz wie sich dieser im Finale eingesteht) „ständiger Begleiter“. Dieser Begleiter reicht Romeo den fatalen Gifttrank, öffnet ihm das Fenster zu Giuliettas Zimmer, ist beim Angriff auf die Hochzeitsgesellschaft, beim Streit mit dem Rivalen wie auch bei der vergeblichen Friedensmission mit dabei. Romeo ist im Wortverstande ‚mitten im Leben vom Tod umfangen‘. Und ein gleiches gilt, wenn auch in geringerem Maße und mit einer überraschenden Schlusswendung, auch für Giulietta. Der stumme Todesjüngling reicht ihr den Betäubungstrank und trägt sie auf seinen Armen. Nur im Finale da entgeht sie anders als Romeo der Macht des Todes. Sie stirbt dem Geliebten nicht nach, sie stürzt davon und findet sich wieder in einem dämmerigen Zimmer voller blutiger Leichen, voller eben zu Tode gekommener Gangster. Endet sie wie Ophelia im Wahnsinn? Hat sich die eben ereignete Geschichte nur in ihrem Wahn ereignet, und wird sie sich in einer Endlosschleife immer wieder neu ereignen? Die Regie lässt die Frage offen.
Loys Inszenierung der I Capuleti e i Montecchi ist zweifellos ein Highlight, eine Inszenierung, die kein museales Kostümfest ist, die statt dessen den Mythos von Romeo und Julia aktualisiert, ohne ihn zu vergewaltigen, die mit der Herausstellung des latenten Inzestmotivs und des Todestriebs eine überraschende, faszinierende und zugleicht überzeugende Variante des Mythos vorschlägt.
Und die Musik? Für Bellini, so hat man oft gesagt, genügen zwei oder drei herausragende Stimmen, und ein Fest des Belcanto ist vorprogrammiert. In Zürich, wo Joyce DiDonato den Romeo und Olga Kulchynska die Giulietta singen, erlebt das Publikum ein grandioses Fest des Belcanto. Dort verbinden sich Belcanto und Inszenierung zu einer Aufführung, wie man sie sich kaum besser und schöner vorstellen kann. Zürich bietet wieder einmal Oper vom Allerfeinsten.
Wir sahen die Vorstellung am 12. Juli 2015. Die Premiere war am 21. Juni 2015.