„Alle Mythen zerrinnen“. Konstanze bei den Islamisten in der Wüste – ohne happy end. In Aix-en-Provence inszeniert Martin Kusej Die Entführung aus dem Serail provokativ gegen den Strich

All das Gerede von Aufklärung, Toleranz, Gutmenschentum, all das sind Mythen, die nichts mit der Welt von Heute zu tun haben, Mythen, die zerronnen sind. Was zählt, das sind Dummheit, Fanatismus, Gewalt, Rachsucht, Sadismus, Mord. Mag dieser Lawrence von Arabien Verschnitt (im Libretto ein gewisser Selim Bassa) seinen Sadismus auch in Masochismus verwandeln und die vier „Verräter“, die vier „Ungläubigen“ im letzten Moment vor dem schon angetretenen Exekutionstrupp  retten, sein Unterführer (im Libretto ein gewisser Osmin) ermordet sie trotzdem. Und präsentiert zu den Schlussakkorden seinem Kommandanten, nein nicht die abgeschlagenen Köpfe, diese Szene hat man aus aktuellem Anlass gestrichen, sondern die blutigen Kleider der „Ungläubigen“.

In Aix zertrümmert die Regie das Libretto, aktualisiert es, verlegt es in die arabische Wüste, macht die Paare zu Geiseln einer islamischen Soldateska und ihres zum Islam konvertierten europäischen Anführer. In dieser Welt haben die Geiseln keine Überlebenschance. Sie werden bei der Flucht in die Wüste wieder eingefangen und  …

Aus der naiven und verlogenen Orientmode und aus den Aufklärungsträumereien, wie sie uns Libretto, Musik und so viele Inszenierungen vorgaukeln wollen, ist hartes, grausames, aktuelles Dokumentationstheater geworden, ein Theater, das uns inzwischen vertraute Bilder aus der islamischen Propagandamaschine nachstellt. In dieser Welt sind die rührenden Liebesseufzer eines Belmonte nur ironische Zitate aus einem längst vergangenen, ‚dekadenten Europa’, ist die Traurigkeitsarie der Konstanze nur Begleitmusik für die sich am eben geschlachteten Hammel gut tuende Soldateska, die die Arme wohl gleich auch noch vergewaltigen wird. In dieser Welt ist Pedrillos Romanze nur die Wahnszene eines vor Durst- und Angst Zusammenbrechenden, ist Osmins Rachearie keine Parodie, sondern brutale Wirklichkeit.

Ja, bei dieser in sich so konsequenten und packenden Inszenierung bleibt Mozart auf der Strecke, wird seine Musik genauso ad Absurdum geführt wie alle Aufklärungsideologie. Eine der typischen Kusej-Inszenierungen, die es darauf anlegen, die dunklen, die verborgenen, die Nachtseiten der Stücke ins grelle Licht zu rücken.

Keine Frage, dass die Gesangssolisten, allen voran Jane Archibald als Konstanze und Daniel Behle als Belmonte  das wenige Sublime, das bei dieser Inszenierung noch übrig bleibt, mit ihrer Kunst zu retten wissen.

Wir sahen die Aufführung am 06. Juli 2015 im Théâtre de l’Archevêché, die 2. Vorstellung der laufenden Serie. Das Publikum hat’s genossen: die Musik, die „geläufigen Gurgeln“, die Brutalitäten der Inszenierung, die Verweise auf die Welt von Heute? Ich weiß es nicht.

„Da hat’s Nächte!“ – in Aix-en-Provence mit einer Wiederaufnahme von Brittens Sommernachtstraum

Ein glühend heißer Tag. Selbst um zehn Uhr abends steht die Hitze noch im Innenhof des ehemaligen bischöflichen Palais. Auf der Bühne bei heraufziehender Dämmerung mit Brittens sanfter, zu Beginn kaum hörbarer, Kammermusik Märchen- und Traumtheater: Robert Carsens berühmte Inszenierung des Midsummer Night’s Dream vom Jahr 1991.

Ein Spiel der Farben, des Lichts, der Bewegung, der Kostüme. Ein Traum, in dem, so will es bekanntlich die Grundstruktur des Traumdiskurses, alles möglich, alles denkbar ist – bis hin zur Groteske und zur Ironie. Da hängt der Himmel, nein, nicht voller Geigen, voller Betten. Da träumt die schöne Königin der Feen mit dem hässlichen Esel, da löst der Traum die Verwicklungen , in die sich scheinbar heillos die beiden Liebespaare verstrickt sahen. Da versöhnen sich alle Paare, da spielen die Handwerker Klamotte.

Ein Stück, in dem die Regie alle ihre „Kunstfertigkeiten“ aufbieten, zeigen kann, wie sie souverän Märchen, Träume, Komödie, die schon Mal die Tragödie streift und eben auch Clownerien und Klamotte in großes Theater zu   verwandeln weiß.

Dass ein so exzellenter Theatermacher wie Robert Carsen mit all diesen Vorgaben zu spielen weiß und in einer südlichen Sommernacht Le Songe d’une Nuit d’Été grandios in Szene zu setzen weiß, wer wollte dies bezweifeln.

Und dass überdies alle Rollen angemessen besetzt sind, das ist in Aix-en-Provence selbstverständlich.

Wir sahen die Aufführung am 04. Juli 2015.

Tartuffe bei der schottischen Sektengemeinde – und Ginevra packt die Koffer. Ariodante beim Festival d‘ Aix-en-Provence

Bietet Aix-en-Provence im allsommerlichen Festspielreigen wirklich etwas Besonderes? Wer es liebt, Oper live nach Mitternacht zu hören und zu sehen, der sollte Aix-en-Provence nicht versäumen. Dort spielt man Ariodante im Innenhof des ehemaligen erzbischöflichen Palasts, beginnt gegen 21 Uhr und endet gegen 1.30 Uhr. Und um Mitternacht da gibt es zum Finale des zweiten Akts eine ungewollte Einlage. Nein, dieses Mal streiken nicht die „Intermittents“, klappern nicht deren Sympathisanten mit Kochtöpfen. Nein, die Intermittents hatten schon vor Aufführungsbeginn einen kurzen Auftritt, trugen schön zivilisiert ihre Forderungen an den französischen Staat vor und erklärten sich arbeitsbereit. Dieses Mal lärmten wohl auf der nahen Place de l’Hôtel de Ville  andere Kunstbegeisterte. So gab es denn zum Lamento der Ginevra und zur Ballettmusik afrikanischen Trommelwirbel als Basso continuo. Bewundernswert, wie sich Ginevra alias Patricia Petibon von diesem außerplanmäßigen Basso continuo nicht stören ließ und so brillant wie bisher einfach weiter sang und spielte. Und sagen wir es bei dieser Gelegenheit gleich: Madame Petibon war an diesem Abend von Gesang und Spiel und Bühnenerscheinung und nicht zuletzt auch von der Regiekonzeption her der unumstrittene Star des Abends. Wie sie sich vom unbedarften verliebten Mädel, das an Papa und Liebhaber gleichermaßen hängt, zur ‚emanzipierten‘ jungen Frau wandelt, wie sie sich vom dümmlichen Bräutigam und vom machtlüsternen Papa, die sie, unabhängig voneinander, doch letztlich gemeinsam, nahezu in den Wahnsinn getrieben hatten,  wie sie sich von diesen löst und dem Terror entflieht, all dies ist schon bewundernswert – und von der Regie stringent und überzeugend angelegt.

Ich bin nicht unbedingt ein Fan des Regie-Duos Jones und Utz. Ganz im Gegenteil. Ihren Münchner Lohengrin (Häuslebauer Elsa vertreibt den Zimmermann) fand ich einen ärgerlichen Flop. Doch ihre Ariodante-Version ist intelligent und stimmig. Mit einem Wort: sofistecated.  Die Regie verlegt das Geschehen aus einem pseudomittelalterlichen in das klaustrophobische Ambiente einer Sektengemeinde der siebziger Jahre. Ganz im Sinne dieser Klaustrophobie spielt sich alles Geschehen in einem einzigen Raum ab. Es gibt keine Privatheit. Es gibt nur öffentlichen Tugendterror. In dieser schottischen Sektengemeinde hat ein machtgieriger und sexgeiler Tartuffe (bei Händel der Intrigant Polinesso) das Sagen, eine Rolle, die Sonia Prina mit geradezu umwerfendem komödiantischem Talent gestaltet. Die Brüder Ariodante und Lucarnio sind, obgleich sie wohl schon länger zum Clan gehören, blasse Fremde geblieben und werden so umso leichter Opfer der Intrige.

In Aix spielt man Ariodante ohne Striche und noch dazu mit der Ballettmusik und gibt das Ballett als Marionettentheater. Marionetten stellen Ginevra und Ariodante dar, spielen als Theater auf dem Theater den Protagonisten ihr Geschick vor. Im zweiten Akt Ginevras Albtraum von ihrer Degradierung zur Hure und von ihrer Vernichtung. Im ersten und im dritten Akt (dort als scheinbares lieto fine)  die Hochzeit- und die Familienidylle. Und jetzt im Finale signalisiert das Marionettenspiel noch eine zusätzliche Pointe. Ginevra flieht nicht nur vor dem Tugendterror  der Gemeinde und der Erbärmlichkeit ihres Liebhabers. Sie flieht auch vor der drohenden Idylle.  Sie packt einfach die Koffer und geht.

So wird in der Jones/Utz Version aus einer Händel Oper, die sich einst an einer Episode aus dem Orlando Furioso orientierte, ein modernes Emanzipationsstück, das die Männer zu lüsternen Intriganten und dümmlichen Trotteln und die Frau zur Primadonna im Wortverstande macht. Ein Stück, das von der ‚Selbstfindung‘ einer modern jungen Frau erzählt – und dies zu einer Musik, die zwar wie in der berühmten „Scherza infida“ Arie ihre Melancholie Exzesse auskostet, die aber, wie zurecht Maestro Andrea Marcon bemerkt, von „Spontaneität“ und „Frische“ bestimmt wird. Und entsprechend präsentieren sie auch Marcon und das Freiburger Barockorchester.

Bietet das Festival d‘Aix-en-Provence wirklich etwas Besonderes? Grämt nicht die lange Fahrt? Beim Ariodante sind Orchesterklang und Gesang und Inszenierung wohl vom Allerfeinsten. Das Ambiente indes enttäuscht. In den Innenhof des barocken Palasts hat man eine riesige Guckkastenbühne mit Bühnenhaus und Orchestergraben gesetzt und damit die ‚Aura‘ des Patio zerstört. Doch für all dies entschädigen ein brillantes Ensemble und das Licht und die Farben der Provence. Ob ich noch einmal hinfahre? Mag sein. „Die lange Fahrt, die geht zu End‘; ehe noch die Sonne sinkt“.

Wir sahen die Aufführung am 18. Juli 2014.

 

 

La belle Hélène, die sich so gern entführen lässt. Eine venezianische Komödie mit der Musik von Francesco Cavalli. Elena beim Festival d‘ Aix-en-Provence

Théatre du Jeu de Paume; Aix en ProvenceEs muss ja nicht immer Platée oder La Calisto sein, zwei ‚Komödien für Musik‘, die in brillanten Inszenierungen, wie sie in Stuttgart bzw. in Basel zu sehen waren, schon fast zum Repertoire unserer Musiktheater gehören. In der venezianischen Oper des 17. Jahrhunderts und vor allem bei Cavalli gibt es wohl noch so manch  anderes Juwel  der Musik und des Theaters zu entdecken.

Jüngstes Beispiel: die Elena vom Jahre 1649, die  Leonardo García Alarcón für Aix-en-Provence ausgegraben hat- oder sollen wir nicht lieber sagen? – wach geküsst hat.

Trotz – oder vielleicht auch wegen der so kleinen Besetzung, wie sie zu jener Zeit in der Oper in Venedig üblich war, klingt Cavalli  im Théâtre du Jeu de Paume lebendig und frisch, zu keiner Zeit eintönig oder gar einschläfernd. Kein Wunder, so mag man sagen, bei diesem Ensemble höchst brillanter junger Sänger, die da singen und spielen. Ein Ensemble, in dem neben der schönen Helena in der Person der Sopranistin Emöke Baráth vor allem der „contre-ténor sopraniste“ Valer Barna-Sabadus als Menelaos herausragt, ein verliebter Menelaos, der sich,  um Zugang zu Helena zu finden, als junges Mädchen verkleidet, der  in dieser androgynen  Rolle gleich Objekt der Begierde zweier Männer wird,  der miterlebt und miterleidet, wie Helena  sich nur allzu gern vom so virilen Theseus entführen lässt, selber gleich mitentführt wird und  im Finale nach allerlei Irrungen und Wirrungen doch noch Helena kriegt. Derweil das kokette Biest ( vornehm gesagt: dieser Urtyp der femme fatale) Theseus, der  sich gerade nolens volens mit seiner Amazone wieder versöhnt hat, schon wieder schöne Augen macht.

 Wie es sich für eine Komödie gehört,  werden  die strahlenden Helden der Mythen karnevalisiert und ridikülisiert. Bei diesem Spiel der Koketterie, bei dieser plötzlichen Verliebtheit, diesem plötzlichen Wechsel von der Verliebtheit zur scheinbaren Gleichgültigkeit, bei diesem lasziven Spiel mit dem Reiz des Androgynen und den latenten homoerotischen Neigungen, bei all dem glaubt man sich geradezu in einer Offenbachiade avant la lettre. Ja, wenn nicht diese so zurückhaltende  Musik Cavallis wäre, die dem Text und dem Geschehen auf der Bühne den Vorrang lässt.

So haben wir denn im schmucken, unlängst restaurierten Rokoko Theater in Aix-en-Provence eine Musik gehört, die seit mehr als drei Jahrhunderten nicht mehr gespielt wurde,  eine höchst amüsante minimalistische Inszenierung gesehen  und brillante Sängerschauspieler erlebt. Eine Festivalaufführung, die diesen Namen zu Recht verdient.

Wir sahen die Aufführung am 15. Juli 2013.