Die Iphigenie hatten wir zuletzt im vergangenen Jahr bei den Salzburger Pfingstfestspielen gesehen. Dort hatte die Regie aus Glucks „Tragédie lyrique“ einen Actionfilm gemacht und die Handlung in eine Kolchose verlegt, wo in schreiende Farben gekleidete Bäuerinnen unter der Leitung einer höchst depressiven Oberbäuerin von einem gewalttätigen Bürokraten dazu gezwungen werden, jeden Fremden, der sich in die Kolchose verirrt hat, abzuschlachten. Wie jeder Mythos lädt auch der Iphigenie Mythos zu aktualisierenden Varianten ein und dass dieser über ein gehöriges Gewaltpotential verfügt, ist offensichtlich. Entscheidend ist nur, ob man das Aktualisieren bis hin zu Banalität und Trash treiben und wie weit man das Thema der Gewalt herausstellen will.
Vom Hyperrealismus, der nur zu leicht in die unfreiwillige Komödie umkippen kann und von banaler Aktualisierung und Trash, wie sie in Salzburg exerziert wurden, hält sich in Paris die Regie fern. Für Warlikowski sind Iphigenie wie auch schon Orest Traumatisierte, die von ihrer Vergangenheit nicht loskommen und die diese immer wieder neu erleben. Er setzt auf eine vorsichtige und zurückhaltende Aktualisierung, macht aus Iphigenie eine elegante gekleidete alte Dame, die inmitten wohl gut betuchter Kriegerwitwen – sie legen zum Finale die Ordensspangen ihrer Männer an – ihre letzten Tage in einer Seniorenresidenz verbringt und die in einem Rückblick noch einmal die schrecklichen Geschehnissen in Tauris und dazu die Katastrophe ihrer Familie vom beinahe vollbrachten rituellen Mord an ihr selber über den Mord an ihrem Vater bis hin zur Ermordung ihrer Mutter durch deren eigenen Sohn erlebt. Dieser Rückblick gerät ihr zur Traumerzählung, in der sich die Katastrophe der Familie hinter einer Spiegelwand und ihre eigene Geschichte auf der Vorderbühne ereignen.
In diesem Doppelspiel, in dem sich die Ereignisse überlagern und die für die Träumende gleichzeitig stattfinden, ist die Rolle der Iphigenie doppelt besetzt. Die von ihren Albträumen geschlagene greise Iphigenie ist eine stumme Rolle für eine Schauspielerin. Die Iphigenie, die diese in ihren Träumen sieht, ist eine junge Frau, die Priesterin der Diana, die zur Schlächterin verdammt ist und die im letzten Augenblick vom Brudermord bewahrt wird, eine Rolle, in der Véronique Gens, wie nicht anders zu erwarten war, brilliert.
Ein lieto fine, wie es Libretto und Musik wollen, kann es in diesem Scenario nicht geben. War die Rettung des Orest – sein Blut besudelter Hals spricht dagegen – vielleicht doch nur eine Wunschvorstellung der Iphigenie? Hat sie ihren Bruder doch abgeschlachtet? War der Tod des Tyrannen vielleicht nur ein Theatercoup? (Pylades sticht ihn in der Theaterloge ab, wo sich Thoas am Schauspiel der angeblich rituellen Ermordung des Orest weiden wollte). Die Regie lässt die Frage offen. Die Albträume der greisen Iphigenie enden erst mit ihrem Tod. Sie stirbt – in einer Nachstellung der Pietà – in den Armen einer Mitbewohnerin(?) des Greisenstifts.
Eine in jeder Weise faszinierende Inszenierung, eine Variante des Mythos, die im Palais Garnier auch ein überwiegend touristisches Publikum zur Aufmerksamkeit zwingt. Dass neben der Rolle der Iphigénie auch alle anderen Rollen herausragend besetzt sind, dass die ‚erhabene‘ Musik Glucks angemessen zelebriert wird, versteht sich im Pariser Opernhaus von selber.
Wir sahen am 2. Dezember 2016 die 20. Aufführung der Iphigénie en Tauride in dieser Inszenierung. Die Premiere war in der Spielzeit 2006/2007.