Es geht auch ohne politische Ansage, ohne Posse und Groteske, ohne Märchenerzähler, ohne militärisches Gepränge, ohne Mittelalter Brimborium, ohne krampfhafte Aktualisierung und ohne Metatheater. Für Wagners Elsa, wie Vincent Boussard und sein Team sie verstehen, ist ‚das Leben ein Traum‘, ein romantisch schöner Traum, den sie in einem Klinikbett erlebt. Ein Traum, in dem alles möglich und wahrscheinlich ist, in dem die Einbildungskraft ständig neue Muster webt – um es frei nach Strindberg zu sagen.
Den Traumdiskurs als Grundkonzeption einer Lohengrin Inszenierung zu wählen, das ist nicht gerade neu. Ganz abgesehen davon, dass das Libretto eine solche Konzeption nahe legt, hatte Harry Kupfer schon vor vielen Jahren in der Berliner Staatsoper Elsa zur Träumenden stilisiert. Doch anders als Kupfer, der den Traumdiskurs mit politischen und gesellschaftskritischen Motiven noch aufmischte (Elsa als Opfer einer faschistisch-militärischen Männerwelt), verzichtet Boussard auf alles politische Beiwerk und konzentriert sich allein auf den Traumdiskurs, auf die Figur der Elsa. Auf eine Elsa, die – vielleicht durch die Lektüre der Sage vom Schwanenritter angeregt – gänzlich in ihrer Traumwelt gefangen ist und die Geschichte von Elsa von Brabant für sich gleichsam durchspielt – vom Anfang bis zum Ende in einer Endlosschleife. Zu Beginn findet Elsa in ihrem Klinikbett eine Schwanenfigur, und am Ende, als der ‚Traummann‘ fort ist, da hockt sie am Boden vor dem Bett und hält eine Schwanenfigur im Arm – und das Traumspiel kann von neuem beginnen. Nie wird Elsa von ihrem Traum lassen, und immer wieder wird plötzlich ein junger Mann an ihrem Bette sitzen, der sie von dem ungeliebten Dritten (bei Wagner ein gewisser Telramund) befreit und den sie doch selber, als er in ihr Zimmer eindrang, töten musste.
Das Leben ein Traum, in dem Elsa sich eine ’Nacht der Liebe‘ mit dem Traummann in ihrem Bett imaginiert, bevor dieser ermattet und triste sich davon macht. Das Leben ein Traum, in dem die „Edlen von Brabant“ in Kostüm und Maske E.T.A. Hoffmanns Serapionsbrüdern gleichen, die, wenn sie sich nicht gerade aus dramaturgischen Gründen in Militärgesängen ergehen müssen, hinter Gazevorhängen zu bloßen Schattenrissen werden.
Spielfläche ist eine schmale, schräg gestellte Bühne, die einem Laufsteg ähnelt. Einziges permanentes Requisit ist Elsas Klinikbett. Elsa ein Fall für die Psychiatrie? Eine solch ‚realistische‘ Deutung, die sich dem sich langweilenden Teil des vornehmlich ältlichen Publikum vielleicht aufdrängte? Vom Realistischen will die Regie nichts wissen. Auch von aller modischen ‚Ästhetik des Häßlichen‘ hält sie sich gänzlich fern. Sie will eine traumhaft schöne Inszenierung – und dies gelingt ihr zweifellos.
Und die Musik? Ich weiß nicht, ob in der modernen Betonburg des St. Gallener Theaters Wagner nicht etwas zu hart klingt. Ich kann und will das nicht beurteilen. Doch dass in St. Gallen ein in allen Rollen brillantes Sängerensemble singt und agiert, daran gibt es keinen Zweifel.
Wir sahen die Aufführung am 27. November 2016, die vierte Vorstellung nach der Premiere am 22. Oktober 2016.