Iphigenie im Pferdestall und unter der Guillotine. Eine szenisch misslungene Iphigénie en Aulide an der Oper Stuttgart

Glucks Iphigenie in Aulis hatten wir kürzlich im Theater an der Wien gesehen und einen enttäuschenden Abend erlebt. Und kaum anders erging es uns jetzt in Stuttgart. Zwar ist hier wenigstens der musikalische Part gelungen: alle tragenden Rollen sind glänzend  besetzt, und aus dem Graben tönt es  feierlich und erhaben – manchmal ein bisschen langweilend und einschläfernd, eben Musik vom Ritter Gluck. Aber dafür ist dann auch die szenische Umsetzung  gänzlich misslungen, und die Regiekonzeption ist – freundlich gesagt – abwegig.

Der Mythos lebt nur in seinen Varianten. Man kann ihn aktualisieren, parodieren, verzerren, nach Belieben transformieren, so lange nur sein Kern nicht zerstört oder zum Nebenmotiv reduziert wird. Doch jegliche Transformation sollte mit Sinn und Verstand geschehen und dazu ein Minimum an Plausibilität und Stringenz aufweisen. Eine Binsenwahrheit, die die viel beschäftigte Stuttgarter Hausregisseurin anders als bei ihrem Don Giovanni bei ihrer Iphigenie kaum beachtet hat. Der Konflikt zwischen tyrannischer Willkür und menschlicher Ohnmacht oder einfacher gesagt: der Konflikt zwischen klerikalem Machtanspruch und Menschlichkeit versandet in Stuttgart in den ersten beiden Akten in einer platten Komödie, um nicht zu sagen im Komödienstadel, und im dritten Akt im kruden Realismus. Der Kern des Mythos wird  dabei zum Nebenmotiv, zur quantité négligeable.

So präsentiert uns denn die Regie einen Agamemnon  als Jammerlappen, der sich unter der Knute seines Imam windet, eine Iphigenie als Modepüppchen und dümmliches Blondchen, einen Achill als schwules Großmaul, der eigentlich lieber mit seinem Herzensbruder Patroklos als mit der ihm zugedachten Braut schäkert, eine  Klytämnestra als Schwiegermutter Zicke und das „Volk“ als eine Art Anstreicher-Kolonne auf Betriebsausflug. Sie alle feiern (mit Ausnahme von Papa Agamemnon und des finsteren Klerikers Kalchas) in einer Art ausgeräumten Pferdestall die Hochzeit von Achill und Iphigenie, zu der sich, o Wunder der Bühnentechnik, aus dem Sand des Pferdestalls  die Andeutung eines Schiffsdecks erhebt – zum munteren Treiben der Hochzeitsgesellschaft. Komödienstadel mit erhabenem Gluck Sound – und das sogar noch im Finale des zweiten Akts, beim Streit zwischen Achill und  Agamemnon, als Schwiegersohn und Schwiegervater aufeinander losgehen und handgreiflich werden.

Ja, und im dritten Akt, da sind wir so richtig in der Tragödie. Da wird der Pferdestall zum Tribunal, da fordert das Volk den Kopf der Iphigenie. Diese legt auch schon mal, ganz braves Töchterchen, das Papas Konflikt versteht, ihr Engelsköpfchen unter die Guillotine. Mama Klytämnestra wandelt sich  ob dieser fatalen Situation von der Zicke zur großen Tragödin, Achill vom Großmaul zum Cowboy, der gleich mit zwei Colts herumballert, und der  machtlüsterne Kleriker  wird  angesichts des  wütenden Achill zum um sein Leben fürchtenden Angsthasen – und schon sind wir beim lieto fine. Nur nicht so ganz. Die kleine Iphigenie behält zwar ihren Kopf. Doch viele andere werden ihre Köpfe verlieren:  zum Militärmarsch ruft der Imam zum Krieg auf. Und das Volk marschiert.

In Stuttgart – man spielt dort die erste Fassung  vom Jahre 1774 – hat man dem Mythos seine metaphysische Referenz gänzlich ausgetrieben und dies zu Recht. Allein etwas Aufklärerisches oder Rationales ist dabei nicht herausgekommen. Eher ein Stück, das im dritten Akt  mit seinem kruden Realismus und seiner Karikierung der Personen der Tragödienklamotte gefährlich nahe kommt und  das in den ersten beiden Akten  aus der Komödienklamotte erst gar nicht mehr herausfindet.

Gluck zu inszenieren, wenn man ihn noch dazu aktualisieren möchte, das ist wohl eine Crux für unsere Theatermacher. Wenn selbst ein Großmeister des Regietheaters  wie Konwitschny  mit einer Gluck Oper  seine Mühe hat – wie vor einigen Jahren an seiner Alceste Version in Leipzig zu sehen war, dann darf auch Andrea Moses in Stuttgart an einer Gluck Oper scheitern. Dass ein Scheitern an einer Gluck Oper indes nicht unbedingt vorprogrammiert ist, das hat vor Jahren schon Jossi Wieler in Stuttgart gezeigt, als er dort Alceste inszenierte und  diese stringent und überzeugend als Zoff im protestantischen Pfarrhaus deutete.

Wir sahen die Aufführung am 19. Januar 2013, die elfte Vorstellung dieser Inszenierung. Die Premiere war am 1. November 2012.