Olga Motta, die für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet, hat sich wie schon vor ein paar Jahren bei ihrem Lucio Silla auch jetzt bei der Lucia für eine manieristische Grundkonzeption entschieden. Manieristisch in dem Sinne, dass auf jedwede Referenz auf eine wie auch immer geartete Wirklichkeit verzichtet wird und alles Geschehen sich in einer Welt des Traums und der Bildzitate ereignet. Über dieses Konzept wird der Zuschauer von Anfang an nicht im Zweifel gelassen. Die offene sich perspektivisch erweiternde Bühne ist in bläuliches Licht gehüllt: die traditionelle romantische Farbe des Traums und der Illusion. Im Hintergrund leuchtet eine Art Mondscheibe, die immer wieder changiert und mal an ein Weltraumbild der Erde erinnert, mal Caspar David Friedrichs Fliegende Eule vor dem Mond evoziert. Edgardo scheint in seinem schwarzen Biedermeierkostüm geradezu Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer nachgestaltet zu sein. Lucia kriecht zu ihrem ersten Auftritt aus dem Sockel einer Schmerzensmadonna. Die Signale an die Zuschauer sind schon überdeutlich: ein Liebender, der von all dem, was ihm geschieht nichts begreift, der gleichsam im Nebel herumstochert, eine Liebende, die von Anfang an zum Leiden und zum Tode verurteilt ist. Die Regie nutzt die Bildzitate immer wieder für symbolische Gesten, für Gesten, die das jeweilige Geschehen verdichten und konzentrieren. Wenn der Bruder von Lucia verlangt, sie solle sich für die Familie aufopfern, dann agieren die Figuren vor einem Altarbild, und die in ihrem Leiden verspottete Lucia steht gleichsam als Heilige in der Imitatio des sich aufopfernden Christus. Ich muss gestehen, dass ich das Bild, das in dieser Szene zitiert wird: Fra Angelico: Die Verhöhnung Christi nur mit Hilfe des Programmhefts erkannt habe. Und das gleiche gilt auch für das Motiv der roten Stöcke. Wenn die Hochzeitsgesellschaft mit langen roten Stöcken herumfuchtelt, den Hochzeitstisch mit diesen Stöcken durchbohrt, die jetzt blutrot gewordenen Tischtücher zusammenlegt, dann sind die freudianischen Assoziationen, mit denen Lucias Hochzeitsnacht mit- und nachgespielt wird, mehr als überdeterminiert. Doch dass das Motiv der Stöcke ein Bildzitat aus einem Kriegsgemälde von Paolo Uccello ist und damit gleichsam als Dingsymbol auf den Streit zwischen der verfeindeten Familien verweist, das erschließt sich für mich wiederum nur mit Hilfe des Programmhefts. So mag es noch manch anderes Bildzitat geben, das mir entgangen ist. Aber eigentlich ist das gar nicht so wichtig. Das Vergnügen war auch ohne zusätzlichen Erkenntnisgewinn schon groß genug. Die Inszenierung mit ihrer Fülle der Bildzitate, dem albtraumhaften Biedermeierambiente, das sie evoziert, mit ihrer Stilisierung der Protagonistin zur Heiligen der ‚Liebe als Passion’ ist zweifellos brillant und beeindruckend. Doch noch beeindruckender ist das Ensemble, das in Stuttgart auf der Bühne singt und agiert. Phantastisch, grandios wird in den großen Rollen gesungen und gespielt. Doch Ana Durlovski in der Titelrolle übertrifft in Spiel und Gesang und nicht zuletzt auch als Bühnenerscheinung noch einmal alle anderen Mitwirkenden. Es mag ja sein, dass in Zürich noch eine bessere Belcanto Sängerin zu hören ist. Doch in ihrem hingebungsvollen Spiel, in ihrer anrührenden Erscheinung, in ihrer Gestaltung des sich immer mehr steigernden Wahns, da ist die Stuttgarter Lucia wohl kaum zu übertreffen. – Wir sahen die Vorstellung am 9. Januar 2010. Es war die neunte Aufführung seit der Premiere am 3. Oktober 2009.