Das weite Land des Wahnsinns. Wolfgang Rihm: Jakob Lenz an der Oper Stuttgart

Ein ausverkauftes Haus, zusätzliche Übertragung in Nebenräume, ein berühmter Komponist – „im Lande hoch geehrt“ -, eine  berühmte Theatermacherin – der Kritiker liebstes Kind -, ein Orchester mit noch nicht einmal einem Dutzend Musikern, jeder von ihnen ein Solist, ein grandioser Sängerschauspieler in der Titelrolle, ein begeistertes Publikum. Und all dies nicht bei der Zauberflöte oder bei La Traviata, sondern beim zeitgenössischen Musiktheater,  bei einem Stück, das in Musik und Szene seinem Publikum nichts schenkt – es allerdings auch nicht sonderlich fordert  oder gar provozieren will. Ein Triumph des zeitgenössischen Musiktheaters? Es sieht so aus.

Rihms Klänge und Rhythmen (seine „Kammeroper“ stammt aus den späten  70er Jahren) sind dem Publikum inzwischen längst vertraut. Zumindest erschrecken sie niemanden mehr. Und das gleiche gilt für die Szene. Auch ein exzessiv ausgebreiteter Wahnsinn auf der Opernbühne stört  wohl niemanden mehr. Ich meine nicht den ästhetisch verhüllten Wahn der Lucia, sondern den Wahnsinn des Jägerburschen Max, der als halbnackter, gewalttätiger Irrer in der Komischen Oper durch die Szene geistert.

Ein halbnackter Irrer mit stierem Blick, dessen Gewalttätigkeit sich indes auf gelegentliche Schreigesangsausbrüche beschränkt, ist auch der Jakob Lenz, wie ihn Andrea Breth und ihr Team in Stuttgart auf die Bühne stellen. Über dreizehn Szenen hinweg wird dieser unheilbare pathologische Fall durchexerziert, ein Fall, vor dem der verständnisvolle Pfarrer Oberlin und der energische Irrenarzt  schließlich kapitulieren müssen. Für Lenz bleibt nur die Zwangsjacke.

Rihms Jakob Lenz eine Wahnsinnsoper,  komponiert und inszeniert ganz aus der Perspektive eines in seinen Wahn Verschlossenen,  eine Oper, die in dieser konsequent und stringent durchgezogenen Version das Publikum in die Rolle des Voyeur drängt, eines Voyeur, der mit einem psychisch Schwerkranken gleichsam eingeschlossen wird. Ja, wenn man diese Mischung  aus Traumdiskurs, Wahnvorstellungen und krudem Realismus, wie sie  die Szene bietet, mag, wenn man eine Figur erträgt, die sich  in Wasserlachen wälzt und in ihrem schizophrenen Zustand ihren Doppelgänger vom Himmel stürzen sieht,  einen Protagonisten, der sich mal für Jesus hält, der die Toten auferweckt, mal für einen Literaten, der seine Verse in  Felder und Wiesen streut, mal für einen vom dominanten Vater Unterdrückten, mal für einen völlig hoffnungslosen Fall, der sich – so in der Schlussszene –  mit seinen Exkrementen beschmiert. Ja, wenn man das alles mag, dann  erlebt man einen großen Opernabend und sieht und hört einen grandiosen Sängerschauspieler auf der Bühne: Georg Nigl in der Rolle des Lenz, der die gesamte Aufführung trägt. Eine Leistung, die man nur bewundern kann.

Und doch bleibt bei aller Anerkennung, die diese so gelungene Inszenierung zu Recht verdient, ein bitterer Nachgeschmack. Dieses ständige Wühlen in der ‚Ästhetik des Hässlichen‘, diese Distanzlosigkeit, dieser Mangel an Ironie, dieser Verzicht auf nur einen Anflug von Parodie ist das nicht ‚Schnee vom vergangenen Jahr‘?  Was hätte wohl Calixto Bieito aus diesem Stück gemacht? Er hätte das Ganze wohl ins Gelächter, vielleicht ins infernalische Gelächter gezogen. Wie dem auch sei. Dem Publikum hat’s gefallen.

Wir besuchten am 15. Dezember 2014 die neunte Vorstellung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 25. Oktober 2014.