Die Entführung findet nicht statt – und Konstanze landet in der Endlosschleife. Jetzke Mijnssen inszeniert Die Entführung aus dem Serail am Aalto- Musiktheater in Essen

Eine Wohltat. Endlich einmal keine Türkenposse, kein Märchen aus dem Morgenland, keine verschleierten Damen, keine als Gutmenschen getarnte Machos, keine hochnäsigen Europäer, keine frohgemut zu heimischen Betten zurückkehrenden Damen. Keine Angst vor der Hochzeitsnacht, keine Freud Sublimierungen und keine Volkshochschulkurse. Nichts von alle dem findet sich in der Essener Inszenierung.
In Essen steht Konstanze im Zentrum des Interesses, eine Frau, die zwei Männer liebt, die sich weder für den einen noch für den anderen zu entscheiden vermag. Wendet sie sich dem einen zu, dann sehnt sie sich nach dem anderen und will zu diesem zurückkehren. Und umgekehrt. Dieses Zögern, dieses Sich-nicht-Entscheiden- können geht wie in einer Endlosschleife immer weiter. Konsequenterweise hat die Essener Entführung kein Finale und erst recht kein happy end. Wo das Stück üblicherweise zu Ende ist, da beginnt die Ouvertüre von neuem. Konstanze, die allein auf der Bühne zurückgeblieben ist, greift sich die Reisetasche, die sie bei ihrer Ankunft im Hause des Selim mit sich trug, und geht davon. Zu welchem der beiden Männer? Zu Selim? Zu Belmonte?Das Spiel, das Spiel um die unmögliche Beziehung, um die nicht auflösbare Dreiecksgeschichte, das wir im Publikum gerade als Voyeure miterlebt haben, wird von neuem beginnen: Konstanze, eine junge Frau von heute liebt Selim, einen erfolgreichen, allseits beliebten jungen Mann von heute und kann ihren einstigen Geliebten Belmonte, den netten jungen Mann aus der Nachbarschaft (?), nicht vergessen. Auf der Party im Hause Selims trifft sie Belmonte wieder, will an die frühere Beziehung anknüpfen, tut es am Ende doch nicht, möchte zu Selim zurück, bleibt allein, bleibt beiden Männern treu und zugleich untreu. Frei nach Goethe eine Stella Variante, eine feminisierte Stella Variante? Oder ist alles nur viel banaler? Frei nach der Maxime, die eine Fraueninitiative in der Pariser Metro großflächig propagiert: “ Etre fidele a deux hommes c‘ est etre deux fois plus fidele“.
Wie dem auch sei. In Essen schlägt die Regie eine Variante, eine Version der Entführung vor, die überzeugt und gefällt. Schade nur, dass die Situierung der Handlung in ein Partymilieu nicht ganz durchgezogen wird. Zur „Qual der Seele“ , zur Seelenpein und Liebesklage treffen sich die Liebenden wohl in unbewohnten Räumen des Hauses ( sprich an der Rampe) und dass sich all dies im Rahmen einer Geburtstagsparty für einen gut situierten jungen Mann ereignen soll, das verliert der Zuschauer aus den Augen. Vielleicht passen auch die beiden Konzeptionen – Psychostudie einer zweifach Liebenden und Situierung der Handlung in eine oberflächliche ‚Spassgesellschaft‘ nicht so ganz zueinander. „Allein, was tut’s“. In Essen ist, das sagen wir ohne alle Mäkelei, ist eine ungewöhnliche Entführung zu sehen. Und das gilt nicht minder für Orchesterklang und Musik. Mit Simona Saturova als Konstanze und Bernhard Berchtold als Belmonte sind die Rollen der Protagonisten brillant besetzt sind. Es ist ein Vergnügen ist, die so oft gehörten Arien wieder zu hören, wenn sie – wie jetzt im Essener Musiktheater – so perfekt und so „seelenvoll“ vorgetragen werden.

Wir sahen die Vorstellung am 21. Juni 2012. Die Premiere war am 10. Juni 2012.

Das Spiel um die unerreichbare Märchenfigur Konstanze. Die Entführung aus dem Serail bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen

Die Entführung zu inszenieren, das muss wohl eine rechte Crux für unsere Theatermacher sein. Als Orientsatire, das geht nicht, dann gibt es Ärger mit den türkischen Vereinen. Als orientalisches Paradies, in dem der edle Moslem den arroganten Christen zeigt, was die Tugend des Verzeihens ist, das ist zu obsolet. Als Aufklärungsmärchen vom edlen Wilden, das ist erst recht Schnee vom vergangenen Jahr. Als Tragödie der schönen Frau, die sich zwischen orientalischem und spanischem Macho nicht zu entscheiden mag und die letztlich dem falschen Mann zufällt, das geht auch nicht. Da protestieren unsere emanzipierten Damen, (wenn es sie denn gibt). Als Schmuddelkomödie im Hartz IV Milieu, das geht auch nicht mehr. Das hat man schon in Basel gemacht. Vielleicht als Selbstfindungssatire und Freudparodie? Das geht auch nicht. Das hat Stefan Herheim schon vor ein paar Jahren mit großem Erfolg in Salzburg gemacht. In Ludwigsburg hat Regisseur und Ausstatter Peer Boysen sich von all dem nicht beirren lassen, konsequent die Möglichkeiten des kleinen Schlosstheaters genutzt und sich für eine Metatheaterkonzeption entschieden, für ein Spiel, in dem von Anfang an dem Zuschauer suggeriert wird: wir spielen Theater, ein Theater, das ein Mitspieler, der Bassa Selim, der in nahezu allen Szenen präsent ist, für sich und die anderen Mitspieler inszeniert, ein Spiel, in  dem die Figur der Konstanze, die als einzige im Kostüm des 18. Jahrhunderts auftritt, eine Theaterfigur aus einer vergangenen Zeit ist, vielleicht eine Traumfigur, die nur in der Phantasie ihrer beiden Liebhaber existiert und die im Finale einfach in den Kulissen entschwindet, auf dass das Spiel im zirkulären Schluss vielleicht wieder von vorn beginne. Eine Konzeption, die wohl die Mehrheit der Zuschauer überfordert, die das konventionelle happy end erwarteten und gar nicht bemerkt hatten, dass Konstanze für den trivialen Belmonte (er tritt im ostfriesischen Seemannkostüm auf) im Finale keinen Blick hatte.

In Ludwigsburg ist alles klein, aber vom Feinsten. Man spielt unter der Leitung von Michael Hofstetter auf „Originalklanginstrumenten“. Das Schlosstheater ist sicherlich der adäquate Rahmen für ein Singspiel aus dem 18. Jahrhundert. Ich mag das Museale nicht. Wir sahen die Aufführung am 30. Juni 2009.