Im Panoptikum der Dekadenz nebst Verweisen auf „die wilden Zwanziger“ in Berlin. Neuenfels inszeniert Salome an der Staatsoper unter den Linden

Auch im fortgeschrittenen Alter und nach so zahlreichen Provokationen, die seit Jahrzehnten mit seinem Namen verbunden sind, ist Theatermacher Neuenfels noch immer gut für eine Provokation oder zumindest für ein Skandälchen. Ich meine nicht seinen publikumswirksamen Streit mit  dem Dirigenten von Dohnányi, über den das Feuilleton ausführlich berichtete und der für die Salome Aufführungen den jungen Dirigenten Thomas Guggeis an die Spitze der Staatskapelle katapultierte. Das sind theaterimmanente Spielchen, die schon mal zu einer Produktion gehören können und mich nicht im Geringsten interessieren.

Ich spreche nur von der, wie es mir schien, musikalisch und szenisch äußerst gelungenen Salome an der Staatsoper. Dass die Staatskapelle einen Strauss comme il faut zu zelebrieren weiß und dass Maestro Guggeis sein Geschäft versteht, das braucht man eigentlich gar nicht zu erwähnen. Dass der eine oder andere im Publikum sich noch mehr Power, noch mehr Saft, noch mehr Glitzern, noch mehr Sogwirkung erhoffte, das mag ja sein. Für mich gab’s da nichts zu bekritteln Und das gleiche gilt für das hochkarätig besetzte Ensemble: Ausrine Stundyte in der Titelrolle, Thomas J. Mayer als Jochanaan, Gerhard Siegel als Herodias, um nur die drei Protagonisten zu nennen.

A rebours, ganz gegen den Strich gebürstet, wider alle konventionellen Erwartungen, so könnte man die Grundkonzeption der Inszenierung benennen.  Eine Inszenierung, die die Voyeurs enttäuscht. Sie warteten vergeblich auf einen traditionellen Tanz der sieben Schleier. Salomes Tanz ist ein Pas de deux mit dem Tod, ein Totentanz, ein Tanz, der auf die finale Szene verweist, in der Salome ihren berühmten Monolog inmitten von einer Unzahl abgeschlagener Köpfe singt, Gipsfiguren, die allesamt dem Kopf des Jochanaan ähneln. Sie hat bekommen, „was sie verlangt“ und das gleich hundertfach.

Die Voyeurs, so signalisiert es die Regie überdeutlich, sollen sich an die Figur des Jochanaan halten. Ein Potenzbrocken ist dieser Prophet, der die Zuckungen seines Unterleibs nur mühsam zu bändigen weiß, der sich in seiner Not auf dem Boden wälzt. Die Zisterne, in der das Libretto Jochanaan gefangen hält, mutiert bei Neuenfels zum meterhohen Phallus. In diesem Phallus wollte so mancher eine Rakete sehen. Ja, warum nicht. Die einen sehen halt auf das vermeintlich ‚Reale‘. Die anderen, die Postfreudianer, sehen halt das Symbolische. An der ‚Potenz‘ führt für beide kein Weg vorbei.

Zum Stelldichein mit der Prinzessin Salome holt ein leibhaftiger Oscar Wilde den Propheten aus seiner Potenzrakete, ein Oscar Wilde im schwarzen Business Anzug, dem in Höhe des Gemächts zwei Plastikhoden aus der Hose hängen. Wer hätte das gedacht. Der Schöpfer leidet mit seinen Figuren, teilt deren Unterleibsprobleme, wird zum stummen Mitspieler und Regisseur, der schon mal in  Maske und Kostüm der Salome deren Rolle übernimmt und damit für Jochanaan zum ‚Objekt der Begierde‘ wird, der im Tanz mit Salome den Todesgott und im Finale den vom Geschehen entsetzten Begleiter der Prinzessin gibt.

All dies kann man, wenn man so will, provokativ oder ein bisschen provokativ nennen. Schockierend ist es nicht. Ganz im Gegenteil. Was sich da auf der Szene ereignet, das ist höchst amüsant. Und nicht nur das. Neuenfels präsentiert uns darüber hinaus gleichsam eine ‘intermediale‘ Inszenierung: eine Hommage an Franz Stuck und an die Revuen und Stummfilme der Berliner Zwanzigerjahre. Es wimmelt geradezu vor fragmentarischen und variierenden Zitaten. Jochanaan ist von der Maske her Franz von Stuck. Seinen Unterleib bedeckt ein Rock, den  Stucks Salome trägt. Die Neuenfels Salome in ihren engen schwarzen  Hosenanzug und ihrer strengen schwarzen Scheitelfrisur erinnert an einen Stummfilmstar. Das Judenquintett mit schwarzem Zylinder und im schwarzen Frack könnte einem Cabaret entlaufen sein. Herodias in ihrem silbrigen langen Glitzerkleid wirkt wie die Assistentin eines Zauberkünstlers, und Herodes ist wohl der Direktor eines Etablissements. Spielen sie alle Salome, ein Stück von Oscar Wilde, ein Stück, das am Ende aus dem Ruder läuft? Ist die Neuenfels Salome ‚Theater auf dem Theater‘, Metatheater? „Allein, was tut’s. Ich habe“ eine höchst brillante Salome Aufführung an der Staatsoper unter den Linden gesehen und gehört. Und wenn sich noch einmal eine Gelegenheit ergibt, dann gehe noch einmal hin.

Wir besuchten die Aufführung am 14. März 2018, die vierte Aufführung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 4. März 2018.

 

 

Die Leiden der missbrauchten Renata. Calixto Bieito inszeniert Prokofjew, Der feurige Engel an der Oper Zürich

Theatermacher Bieito, einst der berüchtigte Spezialist für Unterleibsgeschichten, die er mit einem befreienden oder auch grotesken Lachen aufzulösen pflegte, will vom Lachen nichts mehr wissen. Er hält es jetzt lieber mit einem humorlosen kruden Realismus – je härter und pathologischer, umso besser für die Inszenierung.

Hatte Barrie Kosky in München aus dem Feurigen Engel noch eine geradezu karnevaleske Parodie mystischer Verzückung gemacht und die Protagonistin Renata mit ihrer Sehnsucht nach Vereinigung mit dem feurigen Engel Madiel zur unheiligen Ekstatikerin gemacht, lässt Bieito jetzt in Zürich jegliche Referenz auf die Mystik beiseite und präsentiert eine hochgradig pathologische  Frau im Irrenhaus.… → weiterlesen