Jérusalem, Verdis Grand Opéra vom Jahre 1847, ist eine Rarität. Umso verdienstvoller ist es, dass ein eher kleineres Haus wie die Oper Freiburg Jérusalem mit exzellenten Sängern und in einer ambitiösen Inszenierung wieder vorstellt.
Calixto Bieito, lange Zeit als Unterleib Spezialist verschrieen, hat sich dieses Mal beinahe aller Sexualphantasien enthalten und stattdessen im katholischen Freiburg katholische Obsessionen in Szene gesetzt und diese lustvoll karikiert und pervertiert.
Der Bösewicht, der im ersten Akt seinen Rivalen um die Liebe der Tochter des Grafen ermorden lassen will, der dabei irrtümlich seinen Bruder, den Grafen , trifft und den Mordanschlag dem Rivalen anlastet, hat sich zur radikalen Imitatio Cristi im Heiligen Land entschlossen. So hängt er sich denn auf Golgatha an ein Kreuz – und bleibt dort über drei Akte hinweg bis zum Finale hängen. Ein neuer, ein zum Masochismus neigender Christus. Nicht genug damit. Der neue Christus, der für einen heiligen Eremiten gehalten wird, ist ein Sadist. Ungerührt und stumm sieht er zu und weidet sich daran, wie eine vom Kirchenvertreter aufgehetzte Masse von Gottesmännern den Rivalen, den es auch nach Palästina verschlagen hat, steinigen will – der neue Christus braucht wie sein Vorbild einen Erzmärtyrer. Was dem einen sein Sankt Stefan ist dem anderen sein Gaston.
Allein der auf den Rivalen gerichtete Sadismus reicht dem neuen Christus noch nicht. Ungerührt und stumm sieht er zu und weidet sich daran, wie der Graf, der wundersamer Weise den Mordanschlag überlebt hat, seine Tochter, die zu ihrem unschuldig verurteilten Geliebten, ihrem Gaston hält, maltraitriert.
Zur Christusrolle, die sich der Böse angeeignet hat, gehört auch die Tugend der Barmherzigkeit. Sie fällt ihm nicht schwer, da er Selbstgeißelung und Am-Kreuz-Hängen nicht überleben kann. Und so rettet er den Unschuldigen vor dem Tod und der Oper ein Happyend.
Pervertiertes ‚ruinöses Christentum‘ als Grundkonzeption, vorsichtige Aktualisierung des Geschehens, das laut Libretto im Zeitalter der Kreuzzüge spielt, Streichung der Staatsaktion und Konzentration auf das Böse und Sadistische im privaten Bereich, im Bereich der eigenen Familie. Eine gelungene und beindruckende Inszenierung, die vor allem im zweiten Teil, nicht zuletzt dank der brillanten Sängerdarsteller fasziniert. Allen voran Jin Seok Li als Christusnachfolger, Roberto Ortiz als verzweifelter, unschuldig Verfolgter und Anna Jeruk als unglückliche Hélène. Große Verdi Stimmen in Freiburg.
Wir sahen die Aufführung am 27. Oktober 2016. Die Premiere war am 1. Oktober 2016.