Neurotiker in der Psychohölle. Claus Guth inszeniert Fidelio in Salzburg

An die schöne Mär von der aufopferungsvollen Gattenliebe und der Staatsmacht, die einem Deus ex machina gleich im gefährlichsten Moment herbei schwebt, die Guten rettet und die Bösen straft, an diese schöne Geschichte glaubt schon lange niemand mehr. So machen denn unsere Theatermacher den rettenden Minister gern zum Popanz oder zum Joker, den armen Gefangenen zum Tölpel und Leonore/Fidelio zur amazonenhaften Emanze avant la lettre.

Doch so konsequent und radikal und zugleich so intelligent und brillant wie jetzt Claus Guth in Salzburg Fidelio entstaubt und dekonstruiert, das ist schon eine sehr ungewöhnliche und originelle Deutung der betagten Beethoven Oper.

Die über weite Strecken so albernen und oft unerträglich gesprochenen Dialoge sind ganz gestrichen und werden durch „Sounddesign“ ersetzt, Geräusche, die den Irrsinn und die Alpträume, in denen sich die Handelnden bewegen,  noch verstärken und die beim Zuhörer ein Gefühl des Unbehagens, wenn nicht  gar des Unheimlichen bewirken. Die Einheitsbühne ist ein geschlossener hoher weißer Saal, in den sich ein  nicht minder hoher schwarzer Kubus senkt. Ein Raum, nein eine Hölle, die sich frei nach Sartres Huit clos die Figuren selber bereiten oder auch ein „Salon des Unbewussten“ im Sinne Freuds, wie Christian Schmidt sein Bühnenbild deutet.

Alle Personen, die in dieser Hölle oder, wenn man so will, die in diesem Salon auftreten, sind psychisch  Gestörte. Fidelio/Leonore, die in dem Wahn, besser: in dem Alptraum lebt, den Gatten befreien und erlösen zu müssen, die in ihrem Wahn mit ihrem stummen und gehörlosen Alter Ego zu kommunizieren versucht, der Gouverneur, dem ebenfalls ein Schatten, ein Alter Ego, zugeordnet ist, der Andere, der ihm den verdrängten Sadismus, die Mordgelüste vorspielt, sie ihm immer stärker bewusst macht, Florestan, ein psychisches Wrack, der Wahn und Wirklichkeit nicht mehr auseinander halten kann, der zum Spastiker geworden ist und aus seiner Hölle gar nicht mehr heraus will, Jaquino, ein kleiner Lustgreis, der mit seiner verdrängten Sexualität nicht zurechtkommt. In dieser Gesellschaft der Gestörten sind die sich  ihrer Neigung nicht bewusste Lesbierin Marzelline und der seine Machtgelüste mit Unterwürfigkeit kaschierende Rocco noch relativ harmlose Figuren. So hetzt denn die Regie all diese Gestörten gegen einander, und das Ergebnis für die so Gehetzten ist ein Desaster.

Mag die Musik im Finale mit ihrem bombastischen Feierklang auch das Gegenteil suggerieren. In diesem Fidelio gibt es keine Befreiung, keine Erlösung, keine Heilung der psychischen Krankheiten. Florestan ist vom Terror, den er erlitten hat, gebrochen und zerstört. Fidelio/Leonore findet aus ihrem Alptraum nicht mehr heraus. Don Pizarro sucht sich von seinem Sadismus zu befreien, wirft in symbolischer Geste seinen schwarzen Mantel fort, legt sich  (in selbstmörderischer Geste?) auf den Boden. Will  er seinen Sadismus in Masochismus transferieren? Und Jaquino, der sich an Marzlline gedrängt hat, – knüpft sich die Hose zu. Der Minister im gestickten Diplomatenfrack versteht überhaupt nicht, was in diesem Irrenhaus vor sich geht.

Fidelio, eine Oper in Freuds und Sartres Psychohölle – und das Publikum bejubelt Musiker, Dirigenten, Sängerinnen und Sänger zu Recht. Ob es auch die Inszenierung, die so ganz gegen den Strich gebürstet, so ganz gegen die gängigen Erwartungen angelegt ist, bejubelt? Ich weiß es nicht. Mich hat sie beeindruckt. Guths Inszenierungen, das haben wir vor ein paar Wochen auch  bei seinem Frankfurter Rosenkavalier erlebt, erschließen stets neue, verborgene Bedeutungsschichten der Werke, fordern ihr Publikum, begeistern es oder verärgern es. Doch in jedem Falle setzen Guths Arbeiten Maßstäbe.

Dieser Fidelio ist ohne Zweifel ein Highlight der diesjährigen Salzburger Festspiele. Wir sahen die Aufführung am 13. August 2013.