An die einhundertfünfzig Vertonungen der Armida/Rinaldo Episode hat der französische Forscher Jérôme Pesqué gezählt, und Lullys Oper vom Jahre 1686 fällt dabei unter die ersten zwanzig. Die Geschichte von Armida, der Zauberin und leidenschaftlichen Geliebten, die den Kreuzfahrer Rinaldo für sich gewinnt, von diesem um der Pflicht willen verlassen wird und zu Grunde geht, ist eine der beliebtesten Episoden aus Torquato Tassos La Gerusalemme liberata – so wissen es die Literaturhistoriker, und so wusste es das Publikum im 17. und im 18. Jahrhundert. Armida ist eine Göttin der Liebe und zugleich mit ihrer Zaubermacht, mit der sie eine Welt der Imagination und des Scheins zu erschaffen vermag, eine Chiffre für das barocke Theater – so erzählen es uns die Literaturhistoriker.
Wenn man jetzt in Innsbruck Lullys „tragédie en musique“ ausgräbt, dann präsentiert man dem Publikum also einen heute fast vergessenen Highlight aus der Musik- und Theaterszene des französischen Barock, aus der Festkultur am Hofe Ludwig XIV.
Spielort der Innsbrucker Armida Version ist eine schmale kaum erhöhte Spielfläche im Innenhof des einstigen Jesuitenkollegs. Kulisse ist die Fensterwand des Kollegiengebäudes hinter der Spielfläche. Wohl um die höfische Festkultur und zugleich das Jesuitentheater zu evozieren, hat sich das Regieteam um Deda Cristina Colonna für eine konsequent historisierende Inszenierung entschieden, hat die Tanzeinlagen bewahrt, lässt die Akteure in prachtvollen Barockkostümen auftreten, stellt auf die Bühne und in die Fenster lebensgroße Puppen, projiziert Paläste und französische Gärten auf die Fensterwand, lässt im Finale mit Armidas emotionalem Zusammenbruch auch die Projektionen, eben Armidas Zauberwelt, in sich zusammenfallen. Mit anderen Worten: die Regie erschafft ganz im Sinne des Mythos, eine Welt der Imaginationen, die den Zuschauer verwirrt, einen Zaubergarten, einen Garten der Lüste, in den sich Rinaldo verirrt und in dem er, ganz wie es das Libretto will, zeitweilig – und nur zeitweilig der Liebesgöttin Armida verfällt.
Keine Frage. Das ist alles sehr kunstvoll gemacht, wenn man so will, manieriert im Sinne eines Barockmanierismus. Keine Frage, dass alle Rollen angemessen besetzt sind, dass nicht minder angemessen musiziert wird. Und doch. Ich habe mit den so musealen Aufführungen, mögen sie auch noch so brillant angelegt sein, meine Schwierigkeiten. Sie laufen, so scheint es mir, stets Gefahr, in edler Langeweile dahin zu sterben. Die Reaktion des Publikums war entsprechend: höflicher, etwas reservierter Beifall für alle Akteure und das gesamte Produktionsteam. Auch ein interessiertes und wohlwollendes Publikum wie das Innsbrucker kann mit einer musealen Oper offensichtlich nicht sehr viel anfangen. Das klassische französische Theater bleibt dem deutsprachigen Publikum halt noch immer fremd. So freut es sich denn an Gesang und Klang und Tanz, bewundert die schönen Kostüme, hat für das Kalt-Zeremonielle dieses Theaters wenig Sinn – und vergisst alles recht schnell.
Wir sahen die Aufführung am 22. August 2015, die Premiere.
P.S. Die Innsbrucker Festwochen der Alten Musik sind ein eigenartiges Festival. Beeindruckende Highlights wie heuer Porporas Il Germanico stehen neben manch Mittelmäßigem. „Allein, was tut’s“. Zumindest lernt man in Innsbruck jedes Mal Raritäten kennen und freut sich auf neue. So werden wir denn auch im nächsten Jahr wieder nach Innsbruck fahren – und uns über so manches Lokalkolorit wundern: bürgerliche Herren im Vorruhestand fotografieren ständig mit ihren Handys während der Vorstellung. Elegante Damen schnäuzen sich geräuschvoll zu den Pianissimo Takten, und ganz konform mit hochdramatischen Szenen donnern im Anflug auf den stadtnahen Flughafen die Passagiermaschinen über das Jesuitenkolleg hinweg. „Allein, was tut’s“.
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