Sprechgesang und Biedermeierkostüme. Heinz Holliger, Lunea. Lenau – Szenen in 23 Lebensblättern. Eine Uraufführung an der Oper Zürich

Nach dem Parsifal, einer Koproduktion mit dem Liceu in Barcelona, die wir dort vor wohl sieben Jahren schon gesehen und kommentiert hatten und jetzt noch einmal als Wiederaufnahme in Zürich erlebt haben, sollte man nicht unbedingt am Abend darauf zu einer Uraufführung zeitgenössischer Musik gehen. Man neigt dann  „unbewußt“ dazu, den Komponisten und seinen Librettisten gegen den Großmeister des Musiktheaters auszuspielen und ihnen damit Unrecht zu tun.

Holliger verzichtet, wenn ich das als Nichtmusiker richtig gehört habe, auf alle Melodienbögen, auf alles Aufbrausen des Orchesters, auf alle scharfen Dissonanzen. Statt dessen setzt er auf einen Kammermusik – Stil, auf einen eher zurückhaltend begleiteten Sprechgesang und auf ein Verklingen, das nicht Kommunikatives ‚untermalen‘, sondern eher Traumvisionen und Stimmungen einfangen will. Dass es dabei manchmal etwas einschläfernd zugehen kann – der Herr in der Reihe hinter mir war schon nach einer halben Stunde in schnarchenden Tiefschlaf versunken – das ließ sich wohl nicht gänzlich vermeiden.

„Zettel“ hatte Nikolaus Lenau die kurzen Prosastücke, Aphorismen und Gedankensplitter genannt, die er wenige  Monate vor dem endgültigen Ausbruch seiner psychischen Erkrankung verfasste und die Holliger jetzt als Anregung für  seine „Lebensblätter“ überschriebenen Kompositionen genutzt hat. Diese Zettel oder Lebensblätter bieten keine kohärente Erzählung. Diese zu konstruieren war auch nicht die Absicht Holligers und seines Librettisten Händle Claus. Für ihre Arbeit haben sie 23 Zettel  ausgewählt, und Andreas Homoki hat diese auf einer engen, rechteckigen, ganz in Schwarz gehaltenen Spielfläche in Szene gesetzt – minimalistisch in Szene gesetzt. Ganz im Sinne der  vorliegenden Kammermusik hat er die Zettel zu einem Kammerspiel für eine Person geformt und die übrigen auftretenden Personen, drei Damen und zwei Herren, zu Stichwortgebern und Statisten in einem Spiel gemacht, das sich ausschließlich um die die Person des Nikolaus Lena dreht, einem Spiel, das den progressiven Verfall eines Literaten und die Hilflosigkeit der ihn Begleitenden zeigt. So hat die Regie, wohl entgegen der Absicht des Komponisten doch noch eine Lenau –  Geschichte erfunden, eine Geschichte, an die sich der Zuschauer, wenn er den mag, halten kann. Warum in dieser Geschichte der Kostümbildner die Nebenfiguren  in Biedermeierkostüme gesteckt hat und  dem schon von einem Schlaganfall gezeichneten und dem Wahnsinn immer näher kommenden Lenau Alltagskleidung  von heute verpasst hat, das habe ich nicht begriffen. Aber vielleicht wollten Ausstatter und Regisseur auch nur das alte romantische  Thema vom Kontrast zwischen Philistern und Künstlern, zwischen Biederkeit und Wahn zitieren?

In Holligers latentem Einpersonenstück brilliert Christian Gerhaher in der Rolle des Nikolaus Lenau als Sänger und Schauspieler gleichermaßen. Das Stück lebt, mit Verlaub gesagt, letztlich nur von Gerhahers überwältigender Bühnenpräsens.

Bei und nach Uraufführungen frage ich mich immer, ob ich wohl noch einmal hingehen würde. Bei Lunea bin ich mir nicht sicher. Vielleicht doch. Manche der zitierten Texte Lenaus sind in  der Tat hochpoetisch. Andere wohl nur banal. Und die Musik? Wie seltsam, dass mir nach einer Stunde das Finale aus Die schweigsame Frau plötzlich einfiel: „Wie schön ist doch die Musik. Wie schön erst, wenn sie vorüber ist“.

Wir sahen und hörten die Uraufführung am 4. März 2018.