Es muss ja nicht immer gleich der Louvre oder das Musée d’Orsay oder das Musée Maillol sein. In Paris kann auch die Oper zum Museum werden, sprich: sind Inszenierungen zu sehen, die als Bildergalerien aus alten Zeiten angelegt und als Zitate aus der Theatergeschichte und der Inszenierungsgeschichte konzipiert sind. Die Oper als Museum der Oper. Eine solche Konzeption kann wie bei Hippolyte et Aricie zu einer höchst artifiziellen Rekonstruktion einer Rameau Aufführung im 18. Jahrhundert führen, kann wie bei der Liebe zu den drei Orangen zu einer ironischen Brechung und gezielten Übersteigerung des antirealistischen Märchen- und Metatheaters eines Prokofiev führen oder wie bei der Arabella in einem müden Abklatsch von Repertoire Inszenierungen deutscher Staats- und Stadttheater enden.
Von den drei Inszenierungen, die wir am vergangenen Wochenende in Paris sahen, gebührt zweifellos der Rameau Aufführung, wie sie Ivan Alexandre als Regisseur und Antoine Fontaine als Bühnenbildner in Szene gesetzt haben, die Palme. Im Palais Garnier präsentieren die beiden Theatermacher eine geradezu idealtypische historisierende Inszenierung, eine große Bühnenshow, die in ihrer Prachtentfaltung mit dem ehrwürdigen Musentempel wohl zu konkurrieren vermöchte. Wer diese aufwendigen historisierenden Aufführungen mag, für den bleiben keine Wünsche offen. Kostüme und Perücken in der höfischen Mode des 18. Jahrhunderts. Theatermaschinen in voller Aktion. Diana schwebt auf der Mondsichel und Jupiter auf seinem Adler vom Himmel herab, Neptun taucht aus dem Meere auf oder thront im Schiff auf den Wellen, das Meeresungeheuer mit großem Maul und Raubtierzähnen verschlingt den keuschen Hippolyte, eine Furie bedrängt König Theseus in der Unterwelt. Weiträumige antike Paläste und Tempel tun sich auf. Hoheitsvoll schreitet und tanzt man auf von Brunnen gesäumten Alleen und zum Meer hin offenen Lichtungen. Selbst in der Unterwelt geht es gesittet zu, mag die Situation für den Helden Theseus auch noch so bedrohlich sein. Stets bewahrt er Contenance, bewahrt er seine Würde als König. Und das Gleiche gilt für Königin Phèdre, Prinz Hippolyte, die Prinzessin Aricie, für Hofstaat und Hirten. Sie alle bewahren stets Contenance. Ganz in der Tradition des französischen klassischen Theaters wird dem Gebot der ‚Bienséance‘ Genüge getan. Mögen die Protagonisten auch noch so sehr an ihrer Liebe oder ihren Rachegefühlen leiden, mögen ihre Passionen sie auch noch so sehr bedrängen, stets genügen sie dem Gebot der Affektkontrolle.
Regie und Ausstattung begnügen sich nicht damit, klassisches französisches Theater in historisierender Manier in Szene zu setzen. Was den Reiz, warum sagen wir nicht, den Zauber der Aufführung bestimmt, das sind die Bildzitate, die fragmentarischen und sich überlagernden Bildzitate und nicht zuletzt die Pastiches: die Bühnenbilder im Stile der Malerei des 18. Jahrhunderts. Protagonisten, Chor und Tanzgruppen scheinen aus Gemälden jener Zeit geradezu herausgetreten zu sein. Szenen scheinen sich in Gemälden zu ereignen. Und als Zuschauer glaubt man sich, in ein Fragonard und Watteau Museum oder ganz allgemein in eine Gemäldegalerie des 18. Jahrhunderts verirrt zu haben, in ein Museum, in dem ein Orchester Rameau zelebriert. So fern von allem ‚Realem‘ sind Szene, Geschehen, Figuren und Gesten. Kunst, antirealistische Kunst, historisierende Kunst fern aller Ironie oder gar Parodie wird da in Szene gesetzt, sucht mit Prunk und Pomp, eben wie es sich für höfisches Theater in barocker Zeit gehört, zu beeindrucken. Und beeindruckt sind wir alle Male. Man muss es halt nur mögen. Theater aus uns so ferner Zeit. Theater als Zitat und Museum.
Museales Theater, wenngleich es scheinbar ganz neu daher kommt, bietet auch Die Liebe zu den drei Orangen. Freies Spiel der Imagination, Märchenspiele, die ihre eigene Machart in Frage stellen und vorführen, Commedia dell’arte Figuren, die noch ganz traditionell ihre Masken tragen, ein konsequent antirealistisches Theater, dem jede Psychologisierung der Figuren vollständig fern liegt, Theater auf dem Theater, das den Zuschauer als Bühnenfigur mit einbezieht, „buffoneske Parodien“ (Carlo Gozzi) der auf realistisches Theater fest gelegten Konkurrenten. All dies, was in den Jahren vor und nach dem ersten Weltkrieg russische Theatermacher wie V.E. Meyerhold, nicht zuletzt unter Berufung auf die Fiabe eines Carlo Gozzi, propagierten und was Prokofiev als sein eigener Librettist um das Jahr 1920 wieder aufnahm, all dies ist uns heute höchst vertraut, ist gängige Münze auf den Bühnen von heute.
Nicht minder perfekt wie der Theaterstil des 18. Jahrhunderts bei der Rameau Aufführung im Palais Garnier wird in der Opéra Bastille bei der Liebe zu den drei Orangen ein vor einhundert Jahren modischer Theaterstil nachgeahmt und nachgestellt. Da treten im Prolog die Zuschauer auf und fordern tragische, lyrische und komische Stücke, und die Komödianten setzten gleich die letztere Forderung in Szene. Metatheater oder gleich noch die Parodie des Theaters auf dem Theater. Da gibt es den guten, vertrottelten König, den melancholischen Prinzen im Harlekin Kostüm, die böse Fee und den guten Magier, die groteske Riesenköchin als gefährliche Hexe, die schöne kleine Prinzessin usw., Märchen- und Commedia dell’arte Figuren, die miteinander spielen und die sich selber nicht ernst nehmen – so wenig wie wir als Zuschauer sie ernst nehmen – ganz im Sinne der Poetik, wie sie einst am Ende des 18. Jahrhunderts Carlo Gozzi in Venedig und in seiner Nachfolge ein gutes Jahrhundert später die russischen Theatermacher propagierten. Haben wir als Zuschauer an dieser Art von Aufführung unseren Spaß? Wer sich im Theatermuseum wohl fühlt, der wird sich unterhalten haben. Es gab zweifellos viel zu lachen. Aber lacht man im Museum? Ich weiß es nicht.
Museal, aber jetzt ärgerlich museal ist auch die Arabella Inszenierung, die ein viel beschäftigter Theatermacher aus dem deutschsprachigen Raum in der Opéra Bastille in Szene gesetzt hat. Eine Inszenierung, wenn man sie wohlwollend betrachtet, in der Tradition eines Ponnelle und die doch an die Meisterschaft des so früh verstorbenen Theatermannes kaum heranreicht. Was da auf der verkleinerten Bühne des großen Hauses zu sehen war, war wohl ein Zitat, erinnerte mich eher an die Sparversion einer Arabella Inszenierung, die ich vor Jahren in Hamburg gesehen habe. Dort hatte man die die „lyrische Komödie“ in eine Wiener Operette transformiert, eine Variante, die das Libretto ja durchaus nahe legt: die verarmte Schöne aus einstmals gutem Hause, der Märchenprinz aus fernem Lande, das Buffo Paar, das unerwartet zueinander findet, die grotesken Figuren des spielsüchtigen Herrn Papa, des Trios der heiratslustigen Grafen, das Fest im zweiten Akt, das happy end nach scheinbar tragischen Missverständnissen, die verhaltene Liebesszene im Finale usw. Materialien, die damals die Regie kräftig aufgemischt hatte. So etwas Ähnliches versuchte auch die Regie in Paris. Doch von der so fein ziselierten Konfiguration der Personen, von der Komik und von der Brüchigkeit der Komödie, die das Tragische streifen kann, von all dem ist in Paris nur ein matter Abklatsch zu sehen. Hier konzentriert sich man sich vor allem darauf, die berühmte amerikanische Operndiva mit dem schönen Puppengesicht heraus zu stellen. Keine Frage, dass die Diva brillant (wenn auch textunverständlich) singt, dass sie in ihren eleganten Ballroben eine vortreffliche Bühnenerscheinung hergibt. Nur eines glaubt man ihr in ihrer vornehmen Zurückhaltung nicht: dass der schwere bäuerische Mann aus den slawonischen Wäldern ihr Traumprinz sei. Aber das macht ja auch nichts. Wir sind ja schließlich nicht in der niedrigen Realität, sondern in der Komödie oder vielleicht auch im Märchen. Und da geht es ja bekanntlich so zu, meistens so zu, wie wir es gerne hätten. Vielleicht hat deswegen die Regie uns nicht wissen lassen mögen, dass die scheinbar so leicht daher kommende Komödie ihre Abgründe hat, dass das Leitthema nicht unbedingt die Liebe, sondern ehe das Geld ist, dass die Märchenprinzessin Arabella durch ihre Verbindung mit dem Magnaten Mandryka zur Dollarprinzessin mutieren wird, zum „Mädchen aus purem Gold“. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine Operette. Kein großer Opernabend trotz der üblichen allgemeinen Begeisterung auf den Rängen.
So waren wir denn an einem Wochenende drei Mal im Opernmuseum: in einer Gemäldegalerie des 18. Jahrhunderts, wo man Rameau zu Gehör brachte. In einem modernen Theater der Antiillusionen aus dem frühen 20. Jahrhundert, wo man Prokofiev spielte und im Museum der deutschen Inszenierungsgeschichte, einem Museum mit Richard Strauss Sound. Wie schade, dass die deutsche Abteilung im Vergleich mit den so perfekt aufgezogenen französischen und russischen Ausstellungsräumen so wenig hermachte.
Wir sahen die Vorstellungen am 22., 23. und 24. Juni 2012.