Ein disparater Ring. Zur Wiederaufnahme des Ring des Nibelungen am Aalto-Musiktheater Essen

Bei der Planung des Essener Rings hat man sich am vor Jahren erfolgreichen Stuttgarter Modell orientiert: vier Stücke, vier Regisseure, vier Deutungen, vier konträre Stile. Ein bewährtes Rezept, das gezielt auf Heterogenität  und Vieldeutigkeit setzt  und das auch in Essen erfolgreich umgesetzt wird.

Das Rheingold inszeniert man als wilde Sex and  Crime  und Gewalt Story, die sich im lateinamerikanischen Gangstermilieu, in Müllhalden, Bordells und zwielichtigen Büros und Wohnungen  ereignet –  und  erschlägt mit einer simultan laufenden Bilderfülle geradezu Wagner und reduziert die Musik zum Filmsound. In der Walküre ist man seriös und erzählt im Stil der großen Romane des späten des 19. Jahrhunderts die Geschichte vom ‚Verfall einer Familie‘  im Milieu einer preußischen Militärkaste und setzt die Musik wieder in ihre Rechte ein. Im Siegfried weiß  man in den ersten beiden Akten nicht so recht, was man will und steigert  sich dafür im dritten Akt  zu einem geradezu umwerfenden Wagnerrausch und zitiert dazu im Finale in wohl parodistischer Absicht  als Gegendroge  aus Inszenierungen des späten 19. Jahrhunderts. Und die Götterdämmerung? Die ist  von ihrer ganzen Konzeption her szenisch und musikalisch einfach nur brillant. Da gibt es  nichts  (oder fast nichts) zu mäkeln.

 Vom Essener Ring, der  in den Jahren 2008  bis 2010 erarbeitet wurde und in der letzten Juniwoche wiederaufgenommen wurde, hatte ich damals die ersten drei Teile gesehen und meine Bemerkungen  zur Walküre und zum Siegfried im Blog veröffentlicht.  Was mich damals  und jetzt auch beim Wiedersehn am Essener Rheingold geärgert und fasziniert hat, das gilt auch nach dem Wiedersehn – und so setze ich es auch in den Blog.

 

Sex, Crime, Drogen, Müll und Gewalt. Das Rheingold oder das organisierte Verbrechen im Aalto-Musiktheater

In Essen beginnt man den  Ring des Nibelungen mit einer spektakulären Bilderflut, und in dieser Flut ertrinken geradezu Wagner und seine Musik. Tilman Knabe als Regisseur und Maestro Soltesz stellen ihre Rheingoldproduktion offensichtlich unter das Motto: prima la messa in scena e poi la musica – und die Folgen sind fatal. Mit immer neuen Bildern, die gleich in mehreren Dimensionen und in simultanen Bildtafeln präsentiert werden, wird der Zuhörer systematisch von Musik und Gesang abgelenkt und  in die Rolle  eines bildlüsternen Voyeurs gedrängt. Schon im Vorspiel geht es mit dem großen Spektakel los. Da sind die kleinen Götter schwule Rocker, die am rechten Bühnenrand ausgiebig eine Nummer schieben. Wotan treibt es auf halber Höhe – wir sind immer noch beim Vorspiel – mit den Rheintöchtern, die aus ihrem Puff im unteren Bühnenraum wohl zum Mafioso Wotan in dessen Salon heraufgestiegen sind. Alberich ist  der Herr über eine Müllhalde – sie befindet sich auf der Mitte der Bühne -, und seine Nibelungen  sind marodierende Kinderbanden und Obdachlose, die auf der Müllhalde nach Verwertbarem suchen. Riese Fasolt vergnügt sich mit der Göttin Freia im dämmerigen zweiten Stock. Mama Fricka schaut all diesem Treiben indigniert zu und drängt zugleich Boss Wotan, sich in seinen kriminellen Geschäften mit den konkurrierenden Gangs der Riesen und der Nibelungen nicht übervorteilen zu lassen. Während seine Rockergötter dem im Kampf um die Gelder unterlegenen Konkurrenten Alberich den Ring entreißen (und den Finger gleich mit), vergnügt sich Boss Wotan mit den Rheintöchter-Huren. Erda ist eine schwarze Voodoo-Priesterin, die gleich in drei Gestalten auftritt, und  im Finale postiert Loge schon mal die Dynamitstangen und lässt die Lunte züngeln, auf dass (bei der Götterdämmerung oder vielleicht doch jetzt gleich?) Puff, Salon, Müllhalde, Lasterhöhle, Fafners Kontor, mit einem Wort: das ganze Verbrechersyndikat in die Luft flöge. Bilder über Bilder, spannende und unterhaltsame  Szenen aus dem lateinamerikanischen Gangstermilieu.

Ja, warum soll man aus dem Rheingold, obwohl es doch eigentlich vom Anfang der Welt erzählt, nicht auch mal eine apokalyptische Ausstattungsrevue mit Sex und Crime machen und diese in die  lateinamerikanischen Slums, in die Favelas einer brasilianischen Megametropole, verlegen. Ein hübscher, ein unterhaltsamer Regiegag und zugleich eine durchaus mögliche aktuelle Variante des Mythos von der Weltentstehung. Betroffenheit produziert man damit, wenn es denn beabsichtigt sein soll, bei unseren Theaterabonnenten nicht. In Essen amüsiert man sich in der Rheingoldrevue nicht schlecht. Musiziert und gesungen wurde  übrigens auch. Das gehört sich halt so in einer Revue. Die Musik zur Rheingold-Show schrieb übrigens ein gewisser Richard Wagner. Aber das ist in Essen nicht weiter aufgefallen.

Wir sahen eine der ersten Vorstellungen (und jetzt  die erste Aufführung bei der Wiederaufnahme am 26. Juni 2012).  Die Premiere war am 8. November 2008.

 

Und alles ist doch nur Theater. Götterdämmerung in Film- und Fernsehstudios

Die Produktionsfirma Walhall Pictures  dreht in ihren Studios einen Film oder besser gesagt: eine Show mit dem Script Liebe, Leidenschaft, Eifersucht, Dummheit, Gewalt, Verrat, Geld/Gold, Machtgier, Komplott, Intrige und Mord usw.  Das Ganze soll als Katastrophe für alle Beteiligten, allesamt Menschen von heute, enden. Der Stoff,  aus dem erfolgreiche Filme sind. Ein machtvoller Soundtrack liegt bereits vor. Der Komponist – er ist in Personalunion auch der Verfasser des Drehbuchs – kommt aus dem Land der ‚Dichter und Denker‘ und hat sein eigentlich recht spannungsreiches Drehbuch mit der typischen deutschen Gedankenschwere – so etwas von Untergang und Reinigung, Erlösung und Neuanfang – überfrachtet. Wir streichen dieses sogenannte Metaphysische und Pseudoreligiöse, weisen nur auf die Urkraft, das ewig Schöpferische (meinetwegen das ‚Ewig Weibliche‘), hin und übernehmen dazu aus früheren Werken des Meisters eine Figur: die Urmutter und lassen sie als lebendende Requisite in  Gestalt einer nackten  alten Frau zu Höhepunkten durch die Szene geistern und stumme Ansprechpartnerinnen  für verzweifelte weibliche Figuren sein.

Zweifellos eine bühnenwirksame Konzeption (die Zuschauerin hat sie hier verkürzt und leicht parodistisch dargestellt), bei der das Effektvolle,  bei der die die großen Szenen, eben dadurch dass zugleich gezeigt wird, dass sie nur Theater sind, nur gestellt sind, ihr Pathos verlieren.  Eine Konzeption, die frei nach Nietzsche, Wagner als das „Schauspieler-Genie“ feiert. Alles ist nur Schein und Trug, eben Theater. „Sie wissen nicht, wer Wagner ist: ein ganz großer Schauspieler […] Wagners Musik ist niemals wahr“(Der Fall Wagner, Kapitel 8). Eine solche Konzeption hat überdies den Vorteil, dass sie den Zuschauer nicht überfordert.  Und trotzdem  traut die Regie ihrem Publikum  wohl nicht so recht. So wird sie nicht müde, mit sich wiederholenden und überdeutlichen Signalen ihr Konzept vom Theater auf dem Theater, ihre Version der metatheatermäßigen Entlarvung des Geschehens verständlich zu machen – und damit orientiert sich Theatermacher Barrie Kosky wohl ein weiteres Mal an Nietzsches Wagner Bild: „Wagner […] sagt ein Ding so oft, bis man verzweifelt – bis man’s glaubt.“ (ebenda Kapitel 1).

Gleich zu Beginn senkt sich ein Bildschirm herab, auf dem der Ring Plot als Strichmännchen- und Zeichentrickfilm vorgeführt wird.  Währenddessen schiebt eine nackte alte Frau einen Pappkarton herein, holt daraus drei Stühle, auf die sich drei junge Damen in Freizeitkleidung setzen und den Part der Nornen übernehmen. Natürlich spielen diese Nornen nicht mit einem Seil, sondern mit Filmrollen, die im vorgesehenen Augenblick reißen und von den Bühnentechnikern entsorgt werden. Die drei Damen, die es laut Drehbuch zu den Müttern hinab zieht, klammern sich an die nackte Alte. Und jetzt haben wir alle begriffen, dass die Nackte Urmutter Erda ist, die im Götterdämmerungsfilm die Rolle des Requisiteurs übernommen hat.

So reiht sich denn im Laufe des Abend eine effektvolle Filmeinstellung an die andere, und sie alle entlarven  das Geschehen als gestellte Szenen, eben als Theater auf dem Theater, als Theater, das seine Maschinen offen zeigt, als Theater, das sein Publikum  desillusionieren will. Die Hochzeit im zweiten Akt ist ein Rockerkonzert, bei dem das Publikum (vom Manager Hagen angeheuerte Rocker, Nazi und  betrunkenen Schläger) seinen Platz auf der Zuschauertribüne verlässt, die Braut  belästigt und Co-Manager Gunther das Fürchten lehrt. Der erste Teil des dritten Akts spielt in einem für eine Revue vorbereiteten Studio, eine Revue, in der die Rheintöchter Follies Bergères Tänzerinnen spielen, Siegfried einen tumben Ritter in Rüstung mimt, Wotan im germanischen Fellkostüm mit Alberich im Shylock Dress zwei sich öffentlich verlustierende Homosexuelle geben usw. usw.  Natürlich gibt es im Finale keinen Feuerzauber, keinen Weltenuntergang.  Nur eine leere Bühne, die sich nach den Seiten öffnet und den Blick auf den Fundus, auf den Theaterplunder frei gibt. Ein letztes überdeutliches Metatheater-Signal. Alles ist nur ein Spiel, und jetzt ist das Spiel aus.  Zu Brünnhildes Schlussgesang – sie steht dabei im Nachthemd auf dem Souffleurkasten- drehen sich alle Mitwirkenden zur Wand. Wir sind des Spiels müde. Wir haben die Story zu Ende gedreht. – Und wir das Publikum, für das Ihr all diese Mühe auf Euch genommen habt, wir sind begeistert.

Effektvoll, brillant gemacht, ist dieser Götterdämmerungsfilm, den Theatermacher Barrie Kosky da in den Essener Studios produzieren lässt, alle Male. Und da auch Orchesterklang und Spiel und Gesang keine Wünsche offen lassen, Maestro Stefan Soltesz die berüchtigte Wagnerdroge zu brauen weiß, feierten Essener und zugereiste ‚Wagnerianer‘ zu Recht alle Mitwirkenden. Wagner „ist der Meister hypnotischer Griffe, er wirft die Stärksten noch wie Stiere um“ (Nietzsche ebenda Kapitel 5).  „Nächstes Jahr gehe ich wieder hin“ flüsterte  ergriffen der junge Mann neben mir. „Sehen Sie doch diese Jünglinge – erstarrt, blass, atemlos! Das sind Wagnerianer“.

Die Premiere war am 10. Oktober 2010. Wir sahen die Wideraufnahme am 1. Juli 2012.