Die Macht des Inzests. Christof Loy inszeniert La Forza del Destino an de Nationale Opera Amsterdam

Ich bin nicht unbedingt ein Verdi-Fan. Diese süße, tragisch-traurige Bellezza, diese Dreiecksspielchen, in denen Tenor und Bariton unabhängig voneinander und letztlich doch gemeinsam die Sopranistin erledigen – frei nach dem Motto: keine Oper ohne Frauenleiche – all dies ist schwer erträglich. Doch wenn jetzt wie in Amsterdam bei Der Macht des Schicksals das Nederlands Philharmonisch Orkest unter der Leitung von Michele Mariotti gleich vom ersten Takt an einen fulminanten, einen geradezu rauschhaften Verdi spielt, wenn die tragenden Partien (allen voran Eva-Maria Westbroek als Leonora) mehr als exzellent besetzt sind und wenn die Regie das angeblich so unselige Libretto neu und plausibel erzählt und entsprechend in Szene setzt, dann ist alles  anders, dann gelingt grandioses Musiktheater und alle Verdi-i Vorurteile erweisen sich als nichtig.

In der Geschichte, wie Loy sie erzählt, waltet nicht ein blindes Schicksal. Dort wird auch nicht aus politischen und rassistischen Gründen der Mestize Don Álvaro in den Selbstmord getrieben. Auch das traditionelle spanische Thema des Ehrenhandels, das scheinbar das Geschehen bestimmt, tritt zurück.  Loy erzählt kein spanisches Ehrendrama, sondern ein Psychodrama. Die Voraussetzungen dieses Dramas erfährt der Zuschauer als Pantomime während der Ouvertüre. Der junge Álvaro lebt als Kind im Hause des Marchese di Calatrava – zusammen mit dessen Kindern Carlos und Leonora. Schon als Kinder sind Álvaro und Leonora einander zugetan und machen den Bruder zum eifersüchtigen Außenseiter. Der herangewachsene Carlos liebt die Schwester und vergewaltigt sie. Leonora, wenngleich sie Álvaro liebt, fühlt sich doch zu ihrem Bruder hingezogen. Alle Konflikte, die im Folgenden erzählt werden, haben ihre Ursachen im Schuldgefühl der Geschwister und im Inzest Tabu: die unbedingte Rachsucht des Bruders, Leonoras Flucht ins Kloster, die vergeblichen Versuche Álvaros, Carlos mit Vernunftgründen zu besänftigen.

Loys Grundkonzeption, sein, wenn man so will, freudianischer Ansatz, ist zweifellos plausibel und überzeugend. Nur stößt sie sich immer wieder mit den Zwängen des Librettos: der aufgesetzten Ehrenproblematik und dem ‚Kampf der feindlichen Brüder‘. Am ehesten gelingt die Umsetzung der Grundkonzeption in den Leonora-Szenen, vor allem in der ersten Klosterszene (II. Akt, zweite Szene). Leonoras Flucht ins Kloster ist eine Flucht in die Mystik. Ein Versuch, irdische Liebe mit mystischer Gottesliebe zu sublimieren – ein Versuch, der scheitern muss. Das Kloster ist kein Ort der Gottesliebe. Die scheinbar so frommen Gottesmänner haben ihre Probleme mit der weltlichen Liebe und sehen in Leonora nicht die Büßerin, sondern die attraktive Frau. Ein besonders der Mystik in ihrer kruden irdischen Form zugetaner junger Klosterbruder stürzt sich gleich auf Leonora, konkretisiert an ihr seinen frommen Wunsch nach mystischer Vereinigung. Wenn man so will: eine böse Parodie auf die bekannten Interferenzen von Mystik und Erotik.

Nicht nur von der szenischen Einrichtung, auch von der Musik her ist die erste Klosterszene wohl der Höhepunkt der Aufführung. Leonora alias Eva-Maria Westbroek singt so berückend schön, dass sie nicht nur die Klosterbrüder, sondern nicht minder das Publikum im Saale in Bann schlägt. Verdi-Belcanto in Vollendung.

Im Gegensatz zur Klosterszene bleiben alle anderen Szenen eher konventionell: die Kriegsszenen, die wohl auf die Entstehungszeit der Oper und mit dieser auf die italienischen Risorgimento Kriegshandlungen in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts verweisen sollen. Die Massenszenen mit ihren komödiantischen Einlagen, die wohl an  die romantische Ästhetik mit ihrer gegensätzlichen Verbindung von Sublimem und Groteskem  erinnern sollen.

Keine Frage, dass all diese Szenen handwerklich höchst gekonnt in Szene gesetzt werden und  – so die komödiantischen Szenen – zur Aufheiterung des Publikums beitragen. Man ertappt sich allerdings bei dem Gedanken, dass hier ein paar Striche der Oper und nicht zuletzt auch der Grundkonzeption der Regie gut getan hätten. „Es sind Längen in der Oper – gefährliche Längen. Man lässt sie weg“ – so meinte der Tanzmeister in der Ariadne auf Naxos. Zu La Forza del Destino hätte er wohl Ähnliches gesagt.

Wie dem auch sei. Im Amsterdamer Musiktheater ist ein in Orchesterklang, Musik und Szene ungewöhnlich gelungener Opernabend zu erleben.

Wir besuchten die Aufführung am 22. September 2017, die vierte Vorstellung nach der Premiere am 9. September 2017.