Eine opera seria des jungen Mozart, die im Jahre 1772 in Mailand uraufgeführt wurde, wie soll man die in Szene setzen? Eine opera seria, in der sich ganz klassisch Arie an Arie reiht, in der die Primadonna brilliert und in deren Schatten auch der Primo Uomo seine Kunstfertigkeit zeigen darf und der Tenor, wenngleich ihm die Titelrolle zukommt, musikalisch in den Hintergrund gerückt wird und auch vom Handlungsverlauf her nicht gerade bella figura machen darf. Zweifellos eine Herausforderung für jeden Theatermacher.
Anders als vor Jahren in Salzburg, als ein berühmter Theatermann kläglich am Lucio Silla scheiterte, als er getreu der political correctness und gegen Musik und Libretto den Diktator Sulla meucheln, die Sänger auf der weiten Bühne der Felsenreitschule hilflos herum stehen und die Musik von einer Statistenhorde zertrampeln ließ, anders als der Salzburger Theatermann hat Regisseur Claus Guth eine intelligente und geistreiche Konzeption entwickelt.
Bei Guth bleibt alles Geschehen in der Schwebe, werden dem Zuschauer unterschiedliche Zugänge suggeriert. Sind wir im faschistischen Rom der Mussolini Zeit? Die Kostüme der Handelnden und auch die der Statisten legen dies nahe. Oder sind wir in einem Albtraum, den die Liebenden in den Katakomben erleiden? Spielt der Diktator Sulla mit Getreuen und auch mit scheinbar Getreuen, die ihm nach dem Leben trachten, ein böses Spiel, in dem er sie alle leiden lässt und selber nicht minder leidet? Ist das obligatorische lieto fine, in dem der Diktator Milde walten lässt und abdankt nur Teil des grausamen Spiels, nur ein Gag in seiner eigenen Inszenierung? In der Schlussszene tritt Sulla, der gerade die Türen – im Wortverstande – hinter sich zugeschlagen hat, wie der Kasperle aus der Kiste wieder auf – mit den Insignien der Macht. Ein offener Schluss, der das lieto fine der opera seria als Schein entlarvt ?
Dieses Alles-in-der-Schwebe-Lassen ist nur ein Aspekt der Inszenierung. Hinzu kommt als Theatercoup die Visualisierung der Arien. Was der Handelnde in den Arien erlebt und reflektiert, stellen Schauspieler als Pantomime dar. Wenn die Protagonistin scheinbar Gewissheit hat, dass ihr Geliebter als Verschwörer hingerichtet wird, dann sieht sie in ihrer Lamento-Arie diesen als Sterbenden in den Katakomben. Und wenn die Seconda Donna in ihrem Rondo von ihrer Hochzeit träumt, dann lässt eine Göttin (?) Blätter (oder waren es Blumen?) auf sie herabregnen. Die Pantomimen, so spektakulär, so banal oder auch so kitschig sie manchmal sein können, haben etwas Ambivalentes. Sie lockern das Geschehen auf, machen es dem Zuschauer verständlicher und lenken doch von der Musik ab – einer wunderschönen (vielleicht hin und wieder etwas schematischen) Musik.
Überhaupt die Musik. In Madrid wird brillant gesungen und unter der Leitung von Ivor Bolton brillant musiziert. Die Palme gebührt zweifellos der Primadonna in der Person der Patricia Petibon, die als Sängerin und Schauspielerin alle anderen noch überragt.
Wer die opera seria des jungen Mozart mag und einen langen Abend nicht scheut und anders als so mancher im Madrider Publikum sich bei den traditionellen Dakapoarien nicht langweilt, der sollte den Lucio Silla nicht versäumen.
Wir besuchten die die Vorstellung am 16. September, die dritte Aufführung nach der Premiere am 13. September 2017.