Operette mit Leichen oder Tragédie lyrique mit Operetten Intermezzi? Marc-Antoine Charpentier, Médée an der Oper Zürich

Das Feuilleton jubelt, feiert enthusiastisch William Christie, den Dirigenten und Musikhistoriker, den großen Kenner und Förderer der französischen Musik des 17. Jahrhunderts, der Charpentiers einzige Oper, seine Médée vom Jahre 1693, wieder für die Bühne entdeckt hat, bringt William Christie zu Recht Standing Ovations dar und wirft Andreas Homoki, der die Inszenierung verantwortet, ein paar verärgerte Buhs hinter her – und das wohl zu Recht.

Die Musik Charpentiers ist uns – oder sagen wir besser: ist mir fremd. In der klassischen französischen tragédie lyrique – so belehren uns die Musikhistoriker – käme, so habe es Lully durchgesetzt, dem Text gegenüber der Musik  Vorrang zu. Erst im 18. Jahrhundert bei Rameau habe sich das Verhältnis von Musik und Text umgekehrt. Charpentier stünde genau in der Mitte zwischen den beiden Extremen. Bei seiner Médée haben wir es „wahrscheinlich mit der perfektesten Synthese von Text und Musik dieses Zeitalters zu tun“ – so William Christie im Programmheft der Zürcher Oper auf Seite 30.

In der Tat ergehen sich in der Médée die Akteure nicht in unendlichen Rezitativen. Liedhafte, dramatisierte Gesangseinlagen, Melodik, „Farbigkeit der Orchestrierung“, „raffinierte Harmonien“ sollen vielmehr  Charpentiers Musik auszeichnen. Absoluter Hit sei Médées Air, ihre Verzweiflungsarie genau in der Mitte der tragédie, als sie erkennen muss, dass sie Jasons Liebe verloren hat und ihr nur die Rache und der Weg in die Verbannung bleiben. Das mag so sein, und die  Zuhörerin, die Charpentiers Musik zuvor noch nie gehört hat, orientiert sich gern an den Wegweisungen der Musikhistoriker (Vgl. die Ausführungen von  Catherine Cessac im Programmheft, Seite 46-51).

Die Musik, wie sie Christie mit den Zürcher Spezialisten für Alte Musik, der „Orchestra La Scintilla“, zelebriert ist  einfach schön und, wenn man so will, auch „farbig“. Ich weiß sie nicht anders zu beschreiben und verzichte auf alle Feuilletonlyrik. Dass alle Solisten auf hohem Niveau singen, dass sie alle die schwierige Diktion der französischen klassischen Tragödie (das Libretto stammt von Thomas Corneille) beherrschen, versteht sich in Zürich von selber.

Unbestrittener Star des Abends ist Stéfanie d’Oustrac in der Rolle der Médée: eine grandiose Tragödin, die, selbst wenn sie nicht anwesend ist, die Szene beherrscht und alle anderen Akteure praktisch zu ihren Stichwortgebern macht: den Operettenkönig Créon, das ‚süße Mädel‘ Créuse, zu der der Jammerlappen Jason, der der Dominanz der Médée nichts entgegen zu setzen weiß, flüchtet, der  unglücklich verliebte miles gloriosus Oronte, den die Regie in den Divertissements vollends zum Tölpel macht.

In dieser „tragédie mise en musique“ kommt der Regie eine höchst undankbare und kaum adäquat zu lösende Aufgabe zu. Lully hatte einst, um seinem Publikum, der Hofgesellschaft, nach den Höchstspannungen der Tragödie Entspannung zu gönnen, verfügt, dass jeder Akt einer Tragödie mit einem Divertissement abgeschlossen werden müsste. Anders als bei Lullys Gebot vom Vorrang des Textes hält sich Charpentier an diese Vorgabe – und macht es damit der Regie schwer. Wie soll sie die Divertissements mit der Tragödie der Medea verbinden? Die Divertissements, die in klassischer Zeit Balletteinlagen, Chorauftritte, allegorische Spiele, große Tableaux sein konnten und mit dem dramatischen Geschehen  mehr oder weniger eng verbunden waren..

In Zürich hat sich  die Regie für eine moderne Lösung entschieden und dabei,  wenn sie die Divertissements im ersten und zweiten Akt als Revuetheater der Zwanzigerjahre und als Stummfilmposse in Szene setzt, die Tragödie fast vergessen lassen. Sie lässt Charly Chaplin und Marlene Dietrich auftreten, fährt die große Treppe für den Auftritt des Liebespaares Jason und Créuse herein, macht den verliebten und von Créuse abgewiesenen Oronte zum Objekt des Spotts der Revuegesellschaft.  Im dritten Akt, beim Auftritt der Furien der Unterwelt, die allesamt Totenkopfmasken tragen, glaubt man sich gar auf einer Karnevalsveranstaltung. Und im vierten Akt, wenn eine rachsüchtige Médée den König in den Wahnsinn treibt, da sind wir bei der Militärklamotte und der Blume von Hawaii gelandet.

Keine Frage, das ist alles sehr unterhaltsam und hübsch anzusehen und natürlich von Homoki gekonnt und souverän in Szene gesetzt. Doch im fünften Akt da meldet sich die Tragödie mit aller Macht zurück, und so lässt die Regie denn  allen Komödienklamauk fahren und setzt auf die große Tragödie –   seltsamerweise auf die romantische. Entgegen der Tradition der klassischen Tragödie, die Gewaltszenen auf offener Szene vermeidet und diese in die Botenberichte verlegt, inszeniert sie ganz in der Tradition des romantischen Theaters Mord und Selbstmord auf offener Bühne, setzt den Botenbericht von der Ermordung des  Oronte durch den König und von dessen Selbstmord in Pantomime um und lässt zum Gifttod der Créuse die „Leichen“ auf der Bühne liegen.

So hat denn die Regie aus den Divertissements Revuetheater und aus dem Finale einer klassischen französischen Tragödie das Finale einer romantischen französischen Tragödie gemacht.

„Allein, was tut’s“. William Christie und seinem Ensemble und der Orchestra La Scintilla gebührt an diesem Abend der Lorbeer. Die Inszenierung ist eine quantité négligeable..

Wir sahen die Aufführung am 18. Februar 2017, die Dernière. Die Premiere war am 22. Januar 2017.