Wer in eine Padrissa-Inszenierung geht, sei es nun Turandot oder Babylon in München, sei es wie jetzt in Köln Parsifal, der weiß, was ihn erwartet: nicht teutonische Gedankenschwere, keine ideologische Indoktrinierung, kein Minimalismus, kein Trash aus der Unterschicht, sondern ein großes buntes Spektakel, ein Fest der Lichtregie und der Videos, ein Großaufmarsch der Statisterie und nicht zuletzt eigenwillige, vielleicht auch oberflächliche Deutungen.
Wagners altbekannten Mythensynkretismus, mit dem dieser seinen Parsifal konstruiert hat, ergänzt Padrissa mit Fragmenten aus griechischen und christlichen Mythen sowie mit „Mythen des Alltags“ und richtet einen großen – vielleichtet auch großartigen – Mythensalat für sein Publikum her. Zur Ouvertüre gleich ein Autorennen auf dem Video, bei dem Piloten, die sich zu Tode gerast haben, wohl zum Himmel aufsteigen und ein Fotograf vom Aussichtsturm fällt. Als Introduktion zum zweiten Akt wieder eine Videoeinlage: ein Ausflug mit einem überbesetzten Cabrio, bei dem ein schnauzbärtiger Amfortas (alias Salvador Dalí ?) am Steuer sitzt. Hat sich der arme, der trunkene (?) Amfortas „die Wunde“ vielleicht bei einem Autounfall zugezogen? Grand Prix Events und Machogebaren trunkener Mannsbilder als Mythen des Alltags in Wagners Parsifal?
Die säkularisierten Gralsritter – so glaubt man im ersten Akt zu erfahren – ziehen nicht mehr in den Krieg, sondern haben eine Großbäckerei aufgezogen. Während Gurnemanz seine Geschichten erzählt, knetet er mit seinen Eleven den Hefeteig, und im dritten Akt schiebt er, bevor Kundry ihren Schrei ausstößt, die Brote in den Backofen. Im Finale ist das Brot fertig gebacken, und uns im Publikum werden Brotscheiben gereicht. So kommen denn die biblischen Mythen von der wunderbaren Brotvermehrung und von den Emmaus-Jüngern, die den Herrn beim Brotbrechen erkennen, zusammen und verbinden sich mit der neuchristlichen Erzählung von der Massenkommunion beim Kirchentag. Wagners Parsifal als Vorspiel zum Kirchentag der Gutmenschen im Stile eines Gurnemanz? Und bei dieser Gelegenheit erfüllt sich auch ein so manchem Theatermacher teurer Wunschtraum wieder einmal: Bühne und Publikum, alles ist eins, das Theater ist total. Im Musical Dome, der der Kölner Oper als Ausweichspielstätte dienen muss, war das totale Theater wohl auch eine praktische Notwendigkeit. Da auf der relativ kleinen Bühne eine Hundertschaft weiß gekleideter Statisten eine permanente Himmelsrose oder vielleicht auch die Zuschauer im Theater mimen, blieb der Hundertschaft singender Gralsmönche nur der Zuschauerraum als Szenarium für ihre Auftritte.
Sind die Mythenverweise beim Motiv des Brotes, das Padrissa gleichsam als ‚Leitmotiv‘ nutzt, evident, so sind sie bei der Figur der Kundry, bei der sich christliche und pagane Mythenfragmente überlagern, nicht in allen Bereichen leicht einsichtig. Aus der „Höllenrose“ Kundry ist im dritten Akt ein glatzköpfiges Geschöpf geworden, das im Evakostüm in der Zinnbadewanne stehen muss und dort die Taufe Jesu im Jordan nachstellen darf, während ein Parsifal, der, wie wir ja noch aus dem zweiten Akt wissen, aller Sinneslust entsagt hat, ihr den Schmutz (der Sünde) abwäscht. Nicht genug damit. Vom christlichen Mythos zum paganen und zur Überlagerung beider ist es auch für Padrissa nur ein Schritt. Kaum ist Kundry ‚rein‘, da verwandelt sie sich auch schon in ein vegetatives Wesen, in einen Strauß aus Forsythien, d.h. in eine Schwester der Daphne, die im antiken Mythos, um den Nachstellungen des Gottes Apoll zu entgehen, in einen Lorbeerbaum verwandelt wurde. Kundry wie Daphne ein Symbol der Keuschheit? Nicht doch. Im Finale lässt Kundry/Daphne alle Blumen fallen, taucht in das Gralsbecken, aus dem eine phallische Figur ragt, umklammert diese – so wie bei Ovid die Nymphe Salmacis den geliebten Jüngling, so wie in einem Sonett Marinos Maria Magdalena den Stamm des Kreuzes. Amfortas und Parsifal umschweben wie zwei Engel das Taufbecken und stoßen mit der geweihten Lanze zu – und das Wasser färbt sich rot. Haben sie in gemeinsamer Tat nun endlich das Ewig-Weibliche oder vielleicht den Gral erledigt?
Großes buntes Spektakel mit Mythensalat. Mag sein, dass ich einige der Zutaten wiedererkannt habe. Mag sein, dass mir viele entgangen sind. Das Brotmotiv und die Varianten des Kundry-Mythos sind sicherlich die auffälligsten. Aber vielleicht war doch alles nur ein großer Karneval, eine Mythenparodie? Und wer‘s nicht merkt, der ist halt „ der reine Tor“. War es das?
Und die Musik? Im Musical-Dome dürfte die Akustik nicht die beste sein. Hat sich deswegen Maestro Markus Stenz, der mich schon viele Male mit seinen Wagner-Interpretationen begeistert hat, beim Parsifal für einen absolut verhaltenen Wagner entschieden, für einen Wagner-Sound, der manchmal kaum noch zu hören war? Nach knapp fünf Stunden verlässt man den Kölner Behelfsmusentempel – erschlagen von der Bilderflut, kaum berührt von der Musik.
Wir sahen die Aufführung am 5. April 2013, die dritte Vorstellung. Die Premiere war am 29. März 2013.