In Wien dirigiert Nikolaus Harnoncourt einen Fidelio, wie ich ihn noch nie gehört habe. Eine Deutung, die, vergleicht man sie mit dem machtvollen Klang eines großen Orchesters und dem hochdramatischen Gesang, die gemeinhin beim Fidelio aufgeboten werden, zunächst irritiert und dann immer mehr fasziniert. Einen sanften, einen lyrischen Beethoven zelebriert Harnoncourts Orchester, sein Concentus Musicus Wien, auf historischen Instrumenten, und die Rollen der Leonore und des Florestan sind mit Juliane Banse und Michael Schade eher mit lyrischen als mit dramatischen Stimmen besetzt. So klingt die Arie der Leonore „Abscheulicher, wo eilst Du hin…“ nicht im Geringsten lärmend rachsüchtig oder aggressiv, sondern eher leidend und angstvoll. Diese Leonore ist dem Selbstmord aus Verzweiflung eher näher als der großen Tat (eine Deutung, die die Regie noch verstärkt, wenn sie Leonore zur Arie mit einer Pistole, die sie sich an die Schläfe setzt, hantieren lässt). Bei Harnoncourts Deutung kann auch Florestan kein Freiheitsheld, sondern nur ein gebrochener Mann sein. Die Befreiung des Gefangenen findet auch gar nicht statt. Zum Duett der „namenlosen Freude“ schließt der Scherge Rocco das (verhalten) jubelnde Paar im Kerker ein. Und damit ist das Opernspektakel zu Ende. Die Szene versinkt, die Dritte Leonoren-Ouvertüre entfällt. Was unmittelbar folgt, das ist ein Oratorium, in dem aus dem „Minister“ der Oper ein Oratorium- Sänger in Beethoven Maske und Kostüm geworden ist, in dem Chor und Solisten (die Damen im kleinen Schwarzen, die Herren in abgetragenen Straßenanzügen) von der Rampe herab ihre Freiheitsutopien und ihren Traum von der selbstlosen Gattenliebe in den jetzt hell erleuchteten Saal hinab schmettern. „Seid umschlungen Millionen“, nein, das haben sie nicht gesungen. Doch beinahe so utopisch-kitschig wie im Finale der Neunten schallt es herunter auf uns im Parkett. Dazu dreht die Musik mächtig auf – und wir sind wieder beim konventionellen Beethoven gelandet. Wie seltsam. Wie schade, zumal ja auch der Maestro, glaubt man seinen programmatischen Äußerungen im Programmheft, die angebliche politische Dimension und das Freiheitspathos nur als zweitrangig wertet. „Dieses Umfeld [„die Unterdrückung, das Gefängnis und die Befreiung“] ist für Beethoven nur ein Mittel. Ihm geht es um die Liebe […]“.
Wie schade auch, dass die Regie die Grundkonzeption des Dirigenten kaum beachtet und spektakulär auf Bedrohung und Gewaltherrschaft in einem Ambiente aus Reichskanzlei, KZ und verlogener und damit um so bedrohlicherer Idylle setzt, den Gouverneur zur Karikatur eines faschistischen Kommandanten (natürlich im obligatorischen Ledermantel) und Rocco zu seinem leicht gestörten „willigen Helfer“ macht. Aber vielleicht spielt die Regie nur den Widerpart im romantischen produktiven Kontrast zwischen „le Sublime et le Grotesque“, ein Wechselspiel, das man bei Harnoncourt-Produktionen (zum Beispiel bei seiner Zürcher Zauberflöte oder seiner Zürcher Genoveva) häufig beobachten kann: für den Maestro das Sublime, für die Regie das Hässliche, auf dass das Sublime umso stärker hervortrete.
Im Theater an der Wien ist ein musikalisch höchst brillanter, ein „unerhörter“ Fidelio zu hören und eine eher konventionelle Inszenierung zu sehen, die erst im Finale, wenn sie jetzt ganz parallel zur Musik nicht mehr Oper, sondern Oratorium spielen lässt, das Konventionelle abstreift.
Ein großer, ein beeindruckender Opernabend im Theater an der Wien. Wir sahen die Aufführung am 19. März 2013, die zweite Vorstellung seit der Premiere am 17. März 2013.