Herzmäre und ferner Britten Klang: George Benjamin I Martin Crimp: Written on Skin an der Oper Amsterdam

Am vergangenen Samstag haben wir im Amsterdamer  „Muziektheater“ die Erstaufführung einer Oper gehört und gesehen („Weltpremiere“ war am 12. Juni dieses Jahres in Aix-en Provence), die in ihrer Verbindung von Fremdem  und Vertrautem  wohl als eine der wenigen zeitgenössischen  Opern Aussicht hat, bald zum Kanon des Musiktheaters zu gehören.  Der große Erfolg von Written on  Skin verdankt sich in gleicher Weise der Musik, dem  Libretto, einem Ensemble höchst brillanter Sängerschauspieler und nicht zuletzt auch einer subtilen szenischen Umsetzung. Orchesterklang und Gesang (nicht von ungefähr ist die Hauptrolle  für einen Countertenor geschrieben)  erinnern – mit Verlaub gesagt und ohne dass ich mir ein Urteil anmaßen will  –  von fern her  an den Klangzauber eines Benjamin Britten und lassen  damit im Fremden und Neuen das Vertraute anklingen.  Noch weniger fremd, ja eher vertraut erschien mir das Libretto: eine mittelalterliche  Dreiecksgeschichte, genauer: eine Herzmäre, die auf das Dekamerone (Novelle IV, 9) und  weiter auf die provenzalischen Trobador Viten verweist: die Erzählung von der jungen Frau, deren Liebhaber der Ehemann ermordet und dessen Herz er ihr als Abendmahlzeit auftischt. Als die Frau erfährt, was ihr und ihrem Geliebten widerfahren ist, stürzt sie sich aus dem Fenster zu Tode. In Written on Skin geht es Komponisten wie Librettisten  indes nicht um Gewalt, Sadismus und Kannibalismus (nur im Finale werden diese Themen ausgespielt). Zum Leitthema des Stücks wird ihnen ein Motiv, das bei Boccaccio nur eben angedeutet wird: das sexuelle Erwachen, die sexuelle Emanzipation einer jungen Frau, die mit ihrer unbedingten Leidenschaft nicht mehr zurechtkommt. Eingefügt wird diese Handlung in den Rahmen eines pervertierten  Mysterienspiels, in dem drei Engel die Dreiecksgeschichte  neu schreiben „a precious object, written on skin“ und diese in Szene setzen. Ein Spiel, in dem sie selber die Hauptrolle (den jungen Liebhaber) und zwei Nebenrollen übernehmen und das Paar aus dem Mittelalter, die junge Frau und den Ehemann („Agnès and the Protector“), aus dem Buch, aus den Illuminationen des Buches, neu zum Leben, zum Spielen, erwecken. Nicht genug damit.  Die „Engel“ sind eine Schauspielertruppe von heute, die je nach Bedarf in die der  jeweiligen Rolle entsprechenden Kostüme schlüpfen und die je nach dramaturgischer Notwendigkeit die Requisiten arrangieren. Nur konsequent ist, dass bei dieser neuen ‚Inszenierung‘ des Buches und dessen Miniaturen und Illuminationen der Liebhaber zum Buchillustrator  wird  und dass sich aus seinen Illustrationen und im Finale aus seinem in das Buch gesetzten Text das Geschehen entwickelt.

 Eine komplexe Handlung, bei dem sich traditionelle Gattungsformen wie Novelle und  Mysterienspiel mit modernem Metatheater, eben dem Theater auf dem Theater, überlagern. Die drei Dimensionen des Stücks  konkretisiert die Regie in drei Spielflächen. Zu ebener Erde, zur Rechten, die Spielfläche für die Handlung der Novelle. Zur Linken der Raum für die Schauspielertruppe und für das Mysterienspiel.  Auf der Oberbühne eine Art Studio  oder Kopierraum für die Buchproduktion und zur Rechten ein Raum mit  großem Fenster, ein scheinbar funktionsloser Ort. Vielleicht das  Zimmer mit dem Fenster, aus dem sich die junge Frau in den Tod stürzen wird? Eine Szene, die sich nur in der Imagination der Zuschauer ereignen wird: im Finale schleppt sich Agnès die Treppe hinauf, sucht sich  vor dem  sie verfolgenden Protector zu retten.

 Faszinierender Orchesterklang und brillanter Gesang (allen voran Bejun Mehta in der Rolle des ersten Engels und des Liebhabers und Elin Rombo als Agnès),  ein anspruchsvolles  Libretto und eine subtile Inszenierung (Katie Mitchell) – so sagten wir eingangs – trugen in gleicher Weise zum großen Erfolg von Written on Skin bei.  Anteil am Erfolg gebührt nicht zuletzt  auch der Lichtregie (Jon Clark) und Vicki Mortimer, die für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich zeichnet.  Die Novellenhandlung projizierten sie gleichsam in das Ambiente und in das Licht einer Vermeer Welt, einer Vermeer Welt der scheinbaren Biederkeit, hinter der sich Macht und Unterdrückung, Gewalt und Tod verbergen. Ein großer Opernabend im Amsterdamer  „Musziektheater“.

Wir sahen die Premiere am 6. Oktober 2012.