Salzburger Festspiele 2012. Ouverture spirituelle – Ouverture hivernale. Ästhetische (nicht geistliche) Exerzitien als Introduzione

Ouverture hivernale: winterlich, nein, so richtig winterlich war es Ende Juli nicht in Salzburg. Nur der übliche Regen, die übliche Nässe, die niedrigen Temperaturen. Frieren allerorten. Alles, was man so seit vielen  Jahren von Salzburg kennt.

Ouverture spirituelle: eine kalte Dusche, nein, nur eine scheinbar kalte Dusche hielt auch Intendant Pereira für die Besucher der ersten Woche bereit: nichts von großer Oper, nichts von gefälligem Singspiel, keine Dekadenz und keine Romantik. Religiöses, Sakrales, Liturgisches katholischer, anglikanischer, protestantischer, jüdischer Provenienz erwartete ein williges Publikum. Ein anspruchsvolles Programm, ein breites Spektrum, das vom lateinischen Chorgesang aus der der Zeit der englischen Renaissance bis hin zu Schönbergs Vertonung eines jüdischen liturgischen Gebetstextes („Kol Nidre“) und zur jüdischen Totenfeier reichte: zu Noam Sheriffs „Symphonie für Tenor, Bariton, Knabenchor, Männerchor und Orchester“ mit dem Titel „Mechaye Hametin (Wiederbelebung der Toten)“. Natürlich fehlen in Pereiras Exerzitien nicht die mehr oder weniger populären ‚Klassiker‘ (wohl zur Erholung des Publikums gedacht) wie die Schöpfung, der Messias, die c- Moll Messe, das katholische Oratorium „Die Schuldigkeit des Ersten Gebots“ des elfjährigen Mozart, Bruckners Te Deum usw.

 Keine Frage, dass in Salzburg– von wenigen Ausnahmen abgesehen (davon reden wir nicht) – auf hohem Niveau musiziert und gesungen wurde. Doch, so fragt sich die  gutwillige Festspielbesucherin: war das nicht ein bisschen zu  viel des Liturgischen und Sakralen in nur einer Woche? Ein erschreckter Kritiker einer großen Zeitung sah sich gar religiöser „Propaganda“ ausgesetzt. Doch so schlimm war es nun auch nicht. Wir können ganz unbesorgt sein. Mag sich der neue Salzburger Prinzipal vom barocken Salzburg mit seinen Kirchen und Klöstern und Friedhöfen auch zu einer ouverture spirituelle inspiriert haben lassen. Salzburg ist derweil nicht zum finsteren Ort römischer Propaganda Fide geworden.  Weder richtet das Heilige Offizium noch drohen die Lutheraner von den Kanzeln noch klagen die Rabbiner. In Salzburg feiert man entgegen allem Anschein die Ästhetik des Religiösen, zelebriert keine Gottesdienste, sondern zelebriert Musik und Gesang. Die Texte, wenn wir sie denn überhaupt mitbekommen, liegen uns heute doch so fern. Ich will nicht sagen, dass sie leere Worte sind. Sie verlieren nur unter Macht des Ästhetischen ihre religiös-geistliche Potenz, lösen sich auf in Musik und Gesang.

  So hat uns denn der große Prinzipal wie weiland in Zürich auch in seiner neuen Residenz in Salzburg Hochgenuss bereitet. Möge er dort noch viele Jahre verweilen, bevor ihn der Fluch des bösen Thomas Bernhard trifft: : „Wer hier lebt […], muss, bevor es für ihn zu spät ist, wieder weggehen, will er nicht werden, wie diese stumpfsinnigen Bewohner […], die mit ihrem Stumpfsinn alles abtöten, das noch nicht so ist wie sie selbst“ (Der Untergeher, S. 19f., Suhrkamp Taschenbuch).