Machtspiele in faschistischer Zeit und alles Böse kommt von den Weibern („Omnia Mala ex Mulieribus“): Poppea e Nerone in Madrid

Im Teatro Real in Madrid ist noch bis zum 30. Juni eine Rarität zu hören und zu sehen: L’incoronazione di Poppea con orquestación  de Philippe Boesmans. Inszenierung Krzysztof Warlikowski. Ob die neue Orchesterfassung, die der belgische Komponist vorgelegt hat und die das Madrider Opernhaus als Welturaufführung  („Estreno  mundial“) verkauft, ein Gewinn für die Monteverdi Oper ist, das vermag ich nicht zu sagen. Auch in der spanischen Presse bleibt die Beurteilung eher zurückhaltend.  Die Oper klinge wie Boesmans  und zugleich wie Monteverdi, meint eher nichts sagend der Kritiker von El País und lobt zugleich die höchst beeindruckende Interpretation, die das Klangforum Wien unter Maestro  Sylvain Cambreling vorlegt. Und damit hat Kritiker von El País sicher recht. In einem langen über vierstündigen Abend wurde bis nach Mitternacht vor einem nur schwach besetzten Haus Monteverdi/Boesmans  Oper in Orchesterklang und Gesang und Spiel  von einem brillanten Ensemble geradezu zelebriert.

Nicht minder  beeindruckend ist die Szene:  eine faschistische Diktatur in einem Staat von heute, in dem Sex und Crime dominieren und in dem Transsexuelle ihre Macht- und Liebesspiele inszenieren. Als Einstieg hat die Regie ein Vorspiel erfunden: Ort der Handlung ist ein Hörsaal  einer englischen oder amerikanischen Universität, in der ein dominanter Professor Seneca in englischer Sprache  seinen Studenten – und zu den Studenten zählen die Akteure der Oper –  eine Vorlesung   über Erkenntnis und Zweifel, über Angst und Todesfurcht hält und sich zum Befremden der Studierenden immer mehr in letzteres Thema hineinredet. Als die Studenten den Hörsaal verlassen, erlebt Seneca in einer Art Traumszene den Prolog der Oper: die Wette zwischen Fortuna, Virtù und Amor über die Macht der Liebe. Sechs Jahre später, so erfährt der Zuschauer in guter alter Brecht Manier über Schautafeln (die natürlich zu modischen Video Einspielungen geworden sind), dass Senecas einstige Studenten die Macht im Staate übernommen  und unter der Führung Nerones eine faschistische Diktatur errichtet haben. Und  mit den entsprechenden Ingredienzen wird der Zuschauer auch gleich in den ersten Szenen konfrontiert: pseudojugendlicher Körperkult schwuler Machos, Geheimpolizei, eine ehrgeizige Poppea, ein liebestoller, machtbewusster Nerone. Da mag der langhaarige Soffty Ottone noch so sehr jammern, da mag der einst so mächtige Philosophie Professor Seneca noch so sehr herum schwadronieren. Sie sind zu lächerlichen Figuren mutiert. Die einstigen biederen College Girls Ottavia und Poppea gefallen sich in der Rolle der Femme fatale und spielen mit vollem Körpereinsatz um die Macht. Die eine ist dabei, sie zu verlieren. Die andere dabei, sie zu  gewinnen und hat doch letztlich bei dem transsexuellen Tyrannen Nerone  keine Chancen. Zum berühmten Schlussduett tauscht er mit Poppea die Geschlechterrollen: sie wird zum androgynen Jüngling, er zur barbusigen Braut.

Im Teatro Real ist zweifellos eine beeindruckende Monteverdi Version zu hören und zu sehen.  Eine Aufführung bei der, um nur ein Beispiel zu nennen, Nadja Michael als Poppea und Charles  Castronovo in der Rolle  des Nerone  als brillante Sängerdarsteller herausragen. Bei der Sex und Crime Story, die das Libretto anbietet, ist auch die Deutung der Handlung als moderne faschistische Gewaltherrschaft, deren Basis eine grenzenlos ausgelebte  primär homoerotische  und transsexuelle Sexualität ist, durchaus nachvollziehbar.  Nur ein Einwand bietet sich an: in der Ariadne auf Naxos meint der Tanzmeister, das Stück habe Längen, „gefährliche Längen“. Gefährliche Längen hat auch die Madrider Monteverdi Version. Ein paar zusätzliche Striche täten ihr wohl gut.

Wir sahen die Aufführung  am 18. Juni 2012. Die Premiere war am 12. Juni 2012.