Dieses Mal bin ich vollständig naiv, praktisch ohne Vorwissen in die Oper gegangen. The Turn of the Screw hatte ich zuvor weder auf der Bühne gesehen noch auf Tonträgern gehört, die berühmte Erzählung von Henry James, auf der das Libretto beruht, hatte ich noch nicht gelesen. Keine Vorkenntnisse, keine Vorurteile, nur vage Erinnerung an den kammermusikalischen Stil Benjamin Brittens: der klassische naive Opernbesucher, gespannt und neugierig auf das, was da wohl heute Abend geboten wird. Und was da in der Düsseldorfer Oper an diesem Abend geboten wurde, das war höchst beeindruckend. Herausragende Solisten im Orchestergraben wie auf der Bühne, eine Inszenierung, die das Ambiente des Unheimlichen und des Grauenvollen in Bildsequenzen übersetzt, die die Vieldeutigkeit, die Unbestimmtheit, das Rätselhafte der Handlung betont, ohne je in Klischees oder gar Albernheiten zu verfallen. Die Szene: ein abgewohnter Salon, zugleich Unterrichtsraum und Badezimmer für die Kinder, Treppen, die ins Nichts führen, Seitenwände mit Fluchttüren, gesichtslose, ganz in schwarz gekleidete Geistererscheinungen ( die ‚schnöden Revenanten‘ aus der schwarzen Romantik), die als mal Schattenrisse, mal als ‚reale‘ Figuren auftauchen und wieder verschwinden, ein unsichtbarer Erzähler, der aus dem Off singt, eine halbsenile Haushälterin, eine (scheinbar?) gutwillige Gouvernante, ein Geschwisterpaar im Collegealter. Was sind das für Kinder, die da mit einer ältlichen Haushälterin in einem heruntergekommenen Haus leben? Pubertierende Kinder, die ein böses Spiel mit der neuen Erzieherin („the Governess“) treiben, um ihre (vielleicht?) inzestösen Neigungen zu verbergen? Sind die Erscheinungen der angeblich Toten, des Dieners Peter Quint und der der Miss Jessel, die das Haus und seine Bewohner dominieren, vielleicht nur Halluzinationen, Hirngespinste, nur pure Phantastereien der Gouvernante? Obsessionen, die die junge Frau bedrängen, die sich (vielleicht aus Mutterinstinkt oder vielleicht aus einer erotischen Verklemmtheit?) einbildet, die beiden Kinder vor einer vagen Bedrohung retten zu müssen und die sich in diesen Wahn immer mehr hineinsteigert, bis sie am Ende den Jungen, dem sie gewaltsam ein angebliches Geheimnis abpressen will, erwürgt? Oder hat sie ihn gar nicht erwürgt? Ist er vielleicht vor Schreck gestorben, erschreckt von der Geistererscheinung des bösen Dieners? Oder ist er gar nicht gestorben? Ist er vielleicht in einen Heilschlaf gefallen? Alles bleibt im Vagen, im Unbestimmten. Die Inszenierung – so wenig wie das Libretto und so wenig wie die Musik – bieten keine Lösung an, appellieren an die Imaginationskraft des Zuschauers, auf dass er eine Lösung suche, eine Lösung, die es nicht gibt.
In Düsseldorf ist eine höchst brillante Inszenierung zu sehen, die sich auf ein hoch motiviertes, nicht minder brillantes Ensemble stützen kann. Es ist einfach bewundernswert, mit welcher Bühnenpräsenz, mit welcher Darstellungskunst, mit welch schöner und ausdrucksstarker Stimme Sylvia Hamvasi die Gouvernante spielt. Und das gleiche gilt für den gerade erst zwölfjährigen Harry Oakes in der Rolle des Knaben Miles – um nur die zwei Darsteller zu nennen, die mich am meisten beeindruckt haben.
Mit The Turn of the Screw setzt das Team Immo Karaman und Fabian Posca seinen Britten-Zyklus, der in der vergangenen Spielzeit mit Peter Grimes so eindrucksvoll begonnen hatte, auf gleich hohem Niveau fort. Die Deutsche Oper am Rhein ist für die Benjamin Britten Fans(und spätestens nach The Turn of the Screw zähle ich mich dazu) alle Male eine Reise wert. Wir sahen die Aufführung am 22. Mai 2012. Die Premiere war am 4. Mai 2012.