Die Mär vom ewigen Faschismus und vom melancholischen Intellektuellen mit Hormonstörungen: Fausts Verdammnis (La Damnation de Faust) an der Oper Stuttgart

Die Mär vom ewigen Faschismus und vom melancholischen Intellektuellen mit Hormonstörungen: Fausts Verdammnis (La Damnation de Faust) an der Oper Stuttgart

Die Ära der Intendanz Jossi Wieler in Stuttgart beginnt spektakulär: mit einem Großeinsatz von Chor, Kinderchor und Extrachor, mit drei herausragenden Sängern: Maria Riccarda Wesseling als Marguerite, Pavel Cernoch und Robert Hayward als Faust und Méphistophélès und – mit einem peinlichen Regie Flop.Natürlich: warum soll man den Dr. Faust nicht zum jugendlich-naiven Fernsehjournalisten machen, der im ersten Bild Gewaltexzesse  faschistischer Horden bei einer Zigeunerhochzeit filmt, der im zweiten Bild auf der Couch flennt und von der hübschen Assistentin des Monsieur Méphistophélès einen Drogencoktail serviert bekommt, der im dritten Teil bei den Corpsstudenten in Ohnmacht  fällt, vom Doktor Méphistophélès einen Elektroschock verpasst kriegt und Videos deutscher Städte und Landschaften ansehen darf, der im vierten Teil vom Kleinbürgerglück träumt und im nächsten Bild als erste Höllenstrafe von Méphistophélès von hinten penetriert wird und in einen Kugelkäfig, mit dem die Faschistenbande Fußball spielt, eingesperrt wird. (Ferne Referenz an Dantes Hölle, in der die Liebessünder vom ‚Sturm der Leidenschaften’ herumgescheucht werden?) Ja, und warum soll man nicht noch einmal erzählen, dass alle Gewalt von Faschisten, Mafiosi, Corpsstudenten und Kleinbürgern ausgeht, mit einem Wort: von Männerhorden, die darüber hinaus alle latent schwul sind und die Weiber hassen. Ja, und warum soll man – in diesem Fall konsequenterweise – unseren Méphistophélès  nicht zum Entertainer und zum Capitano der Faschistenbande machen, der sich, als er den dümmlichen Intellektuellen (bekannt unter dem Namen Dr. Faust) endlich erledigt hat, sich  zur Entspannung an einer Marienstatue verlustiert. Kritik am katholischen Weltbild, noch dazu wenn sie sich im Schlussbild zur schwarzen Messe steigert, macht sich bekanntlich immer gut. Im Finale tritt der Böse als Papst auf, der den Schlägern das Köpfchen streichelt, Marguerite, die im kurzen Unterkleidchen wohl einen Maria Magdalena Verschnitt mimen soll,  heilig spricht und sie mit der Hostie vergiftet – wahrscheinlich aus Eifersucht. Sie ist ja seine ehemalige Assistentin, die auf seinen Druck hin Gretchen spielen musste und dabei (zum Ärger von Monsieur Méphistophélès) für den schönen Jüngling Feuer gefangen hat. Natürlich kann man das alles so machen, und der Regie gelingen in den Massenszenen auch  immer wieder faszinierende Bilder. Das Publikum –abgesehen von den üblichen rituellen Buhrufen – ist ja auch größtenteils begeistert. Vielleicht weil alles so eindeutig, so klar, so plakativ, so albern simpel ist. Die Dame, die neben wir saß, fand es allerdings „zum Kotzen: wir wissen ja nun wirklich, dass die Schwulen nur ihre Mama lieben und, wenn es denn sein muss, auch die Madonna. Das muss man uns doch nicht noch einmal mit dem Holzhammer beibringen. Dass Faust und Mephisto auch ein latent schwules Pärchen sind, das hat man uns schon auf der Schule erzählt. Dafür brauchen die uns auf dem Theater nicht noch eine Nummer vorzuspielen. Und dass in Italien  Schlägertrupps in Uniform  Zigeuner und Rumänen jagen, das wissen wir auch schon“.  Die Dame meinte wohl, auf der Bühne erwarte sie Polyvalenz und Freiraum für die eigene Imagination und nicht Indoktrination. Die Wahnvorstellungen, Komplexe und Traumata einer Regie, die die Welt und die Literatur auf faschistische Schläger, latente Kinderschänder, Bücherverbrenner, Mafiosi, liebestrunkene junge Damen und melancholische Softies reduzieren will, seien eigentlich nicht bühnenreif. Und da hat die zornige Dame wohl nicht so ganz Unrecht. An der Garderobe hörte ich noch einen älteren Herrn (Typus: Oberkirchenrat im Ruhestand) schimpfen: „Die Regisseurin hat wohl einen Klosterschaden und einen Schwulentick“. – Unsinn,  hätte ich ihm antworten sollen. „Die Regiedame ist offensichtlich bei Calixto Bieito in die Schule gegangen – dessen Ironie, dessen Heiterkeit, mit  der er das Skandalöse gleichsam wieder zurück nimmt, hat sie allerdings noch nicht ganz mitbekommen. Aber vielleicht beim nächsten Mal.“

Wer die großen simpel gestrickten Spektakel im Stil der Grand Opéra mag, der sollte den Stuttgarter Faust nicht versäumen, zumal ja auch brillant gesungen und gespielt  wird. Wer allerdings verunglücktes ‚Regietheater‘ nicht mag, sollte lieber zu Hause bleiben oder sich eine  frühe Arbeit von Jossi Wieler in Stuttgart ansehen, seine Alcina. In dieser Inszenierung erfährt er, was ‚Regietheater’ sein kann.  Wir sahen die Faust Premiere am 30. Oktober 2011.

Nachtrag vom 6. 1. 14

Vielleicht gewinnt die Inszenierung, wenn man sie nach gut zwei Jahren noch einmal sieht. Vielleicht bietet sie doch mehr als diesen abgestandenen Faschismus-Plunder, der mich beim ersten Mal so gelangweilt und verärgert hatte. Vielleicht orientiert sich die Regie – wie das z.B. Martin  Kusej so gerne tut – auch an der romantischen Ästhetik des Kontrasts von „Sublime et Grotesque“. Vielleicht soll die über weite Strecken so sublime Musik eines Berlioz mit dem grotesken Geschehen auf der Bühne – gemeint ist diese Mischung aus Hässlichkeit und Komik – kontrastieren. Vielleicht.

Doch langweilig und aufgesetzt fand ich es auch dieses Mal und manchmal sogar peinlich – wenn die Damen des Opernchors auf verrucht machen sollen. Muss man wirklich die Sängerinnen auf diese Weise vorführen?