Alles ist Theater, alles ist Illusion und Schein und Albtraum. Eine Wiederaufnahme von Jossi Wielers Alcina an der Oper Stuttgart
Händels Alcina habe ich in den letzten Jahren in München und in Wien gesehen – in faszinierenden Aufführungen. Als Wahn und Trug in einem Reigen der Liebe und Melancholie hatte Christof Loy bei den Münchner Opernfestspielen den Alcina Mythos gedeutet. In Wien, man kann es kaum glauben, dass das berühmte Haus am Ring im November 2010 Alcina zum ersten Mal auf dem Spielplan hatte, in Wien spielt man Alcina als Theater auf dem Theater, als Laienaufführung auf dem Landsitz einer englischen Hochadligen, die mit ihrer Familie und ihren Freunden Alcina aufführt. Und in der Hochschule für Musik und Theater in München, da wird Alcina zur Komödiantin, die sich bei jedem Auftritt in eine andere Theaterfigur verwandelt. Alcina, so signalisieren es – und dies zu Recht – alle Inszenierungen, ist eben ganz in der Tradition des Barockzeitalters geradezu die Chiffre für Verwandlung und Verzauberung, die Chiffre für die Scheinwelt des Theaters. In dieser Tradition steht auch Wielers berühmte Inszenierung, die vor mehr als dreizehn Jahren in Stuttgart Premiere hatte und die in dieser Saison, in der Intendant Wieler Stuttgarter Regiearbeiten seiner frühen Jahre wieder hervorzaubert, neu einstudiert wurde. Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit heißt die Konzeption dieser Alcina Inszenierung. Nichts ist eindeutig, alles ist Verwirrung und Schein – für die Handelnden und nicht minder für die Zuschauer. Befinden wir uns im Fundus eines Theaters oder vielleicht doch in einem englischen Landhaus, dem in englischen Kriminalromanen so beliebten Ort der Handlung? Ist Alcina eine elegante Lady, die eine Komödie aufführen lässt? Erleben Ruggiero und Bradamante einen Albtraum vor der Hochzeitsnacht? Flüchtet er zur ewigen Femme fatale? Entdeckt sie ihre lesbische Veranlagung? Warum treten die Figuren aus einem Spiegel heraus? Oder ist der Spiegel nur ein Bildrahmen, aus dem die Figuren treten? Sind diese vielleicht gar keine ‚wirklichen Figuren’, sondern nur Phantasieprodukte der Betrachtenden? Ereignen sich die Liebesszenen zwischen Alcina und Ruggiero nur in der Phantasie einer eifersüchtigen Bradamante? Wenn im Finale Melisso, die Vaterfigur, Alcina – scheinbar – erschießt, ereignet sich dies in der Imagination Ruggieros, der sich vergeblich von der Femme fatale zu lösen sucht? Warum spielt Ruggiero immer wieder mit Schuhen: mit Alcinas elegantem Schuh und mit seinen eigenen schweren Militärstiefeln? Warum greift er in Augenblicken der Erregung immer gleich nach langen Degen und langen Flinten? Ein ironisch-spöttisches Bonbon für die Freudianer im Publikum, die gleich an die Phallusbedeutung von Schuh und Bein und Degen denken sollen? Ist der angeblich in einen Löwen verwandelte Astolfo, der im Finale sich im weißen Dinnerjackett unter die Handelnden mischt, vielleicht der gehörnte Ehemann der Lady? Alles ist nur Spiel, alles ist nur Schein? Vielleicht mit Ausnahme der Trauer und Verzweiflung der Lady, die ihren jungen Liebhaber für sich verloren glaubt? Er wird zurückkehren: nur zum Schein wird er der Braut folgen. Alles ist nur Schein und Trug und Wahn. Und gesungen und musiziert wurde dazu auf höchstem Niveau. Ein faszinierender Händel Abend in der Oper Stuttgart. Wir sahen die Vorstellung am 29. Oktober 2011.